Was flüstert Ulrike Meinhofs Gehirn?

Nachgetragene Obduktion Wie auch immer die RAF-Geschichte entsorgt werden mag - die Anleihen bei der Hirnforschung sind mehr als fragwürdig

Man weiß nicht mehr genau, wie die Kopfverletzungen der beiden Patienten entstanden sind. Ausführlich sind jedoch Symptome, Diagnose und Prognose der Patienten beschrieben. Auf den Papyrusrollen taucht in ägyptischen Hieroglyphen zum ersten Mal das Wort "Gehirn" auf, geschrieben im 17. Jahrhundert vor Christus. Wie Löcher in der Schädeldecke belegen, wagte man sogar schon damals Operationen am Gehirn. Dennoch ist das komplexeste Organ des Menschen bis heute nicht vollständig verstanden, weshalb chirurgische Eingriffe oder gar seine Sektion - zumal wenn sie öffentlich bekannte Personen betreffen - bis heute Aufsehen erregen.

Der neurologische Hass-Furor

In einem kleinen rundem Glas mit der Archivnummer ES 154/76 soll es jahrzehntelang in einem Keller in Tübingen gelagert haben. Nach bald 30 Jahren wird das Gehirn von Ulrike Meinhof nun erneut untersucht, nachdem bereits nach ihrem Tod eine Obduktion angeordnet worden war. Wurde damals das Ergebnis geheim gehalten, verblüffen erneute neuropathologische Untersuchungen mit dem Befund über deutlich sichtbare Schäden des Gehirns der Meinhof: Von "Verletzungen der Rinde" ist die Rede, von "Gewebe", das hier "wie aufgeribbelt", dort wie "vernarbt" erscheint. Die Verletzungen und Vernarbungen sollen an ganz bestimmten Stellen auffindbar sein, Stellen, an denen "die Abteilung Emotionen untergebracht ist". Die Hirnforscher glauben nun zeigen zu können, woher der "Furor" kam, der "Dämon, der sie so unbändig hassen ließ", wie der Neurologe Jürgen Pfeiffer in einem Spiegel-Interview befand. Der aufgefundene Hirnschaden habe zu einer unkontrollierbaren Aggressivität geführt. War die RAF-Terroristin also "psychisch krank", litt sie "unter einer Persönlichkeitsstörung", wie der MDR vorauseilend feststellt?

1962 klagte Ulrike Meinhof über Kopfschmerzen und Doppelbilder. Die Ärzte diagnostizierten einen Hirntumor und unterzogen sie einer Gehirnoperation. Statt eines bösartigen Tumors fand sich lediglich ein Blutschwamm, der nicht entfernt werden konnte. Jahre nach dieser Operation fühlte sich Ulrike Meinhof wieder gesund, was die behandelnden Ärzte bestätigten. Nach den jetzt durchgeführten Untersuchungen jedoch soll durch die damalige Operation und den aufgetretenen Blutschwamm das Hirngewebe des rechten Schläfenlappens beschädigt worden sein. Dort und an der Schädelbasis liegt das sogenannte limbische System mit dem Mandelkern (Amygdala), das für die emotionale Verarbeitung zuständig ist. Schäden im umliegenden Gewebe werden für das "pathologische Ausmaß an Aggressivität" der Ulrike Meinhof verantwortlich gemacht. Endlich scheint die "wissenschaftliche" Begründung für die RAF gefunden: Das Gehirn spielte verrückt.

Was die Wissenschaft erzählt

Zweifellos, das haben jahrzehntelange Forschungen gezeigt, gibt es Zusammenhänge zwischen limbischem System, insbesondere dem Gebiet um den Mandelkern, und den emotionalen Zuständen eines Menschen. Entscheidende Erkenntnisse gewann man aus dem berühmt gewordenen tragischen Fall des Patienten H.M., der nur unter seinem Initial bekannt ist. H.M. litt seit über zehn Jahren an epileptischen Krämpfen, die trotz hoher Medikamentendosen immer schwerer wurden. Am 23. August 1953 wurden H.M. deshalb auf beiden Seiten große Teile der inneren Schläfenlappen mit den Mandelkernen und den sogenannten Hippocampi entfernt. Tatsächlich reduzierten sich daraufhin die Anfälle, doch als Folge der Operation litt H.M. unter einer schweren Gedächtnisstörung: Er konnte sich zwar an Einzelheiten und Ereignisse vor seiner Operation erinnern, aber neue Ereignisse nicht länger als eine Minute behalten. So las er mit großem Interesse in immer denselben Zeitschriften, ohne dies wahrzunehmen. Sein Gedächtnis war auf dem Stand von vor der Operation festgefroren: "Jeder Tag steht für sich selbst, egal welche Freude ich hatte oder welche Sorgen ich verspürte."

Auch heute noch werden ähnlich schwere Gehirnoperationen durchgeführt, doch nie auf beiden Seiten des Gehirns, um einen weiteren Fall H.M. zu vermeiden. Bei vielen Patienten wird dabei oft auch der Mandelkern herausoperiert - genau die Struktur, die bei Ulrike Meinhof verletzt worden sein soll. Die betroffenen Patienten überstehen diese Eingriffe erstaunlich gut, es kommt zwar zu Beeinträchtigungen, aber keineswegs zu einer "pathologisch erhöhten Aggressivität", wie er beim vergleichbaren Eingriff bei Ulrike Meinhof entstanden sein soll. Selbst von H.M., dem der linke und rechte Mandelkern entfernt worden war, ging keine unkontrollierte Aggressivität aus, nach der Operation wurde er als stabile und ausgeglichene Persönlichkeit beschrieben.

Was genau in den Schläfenlappen und den angrenzenden Strukturen vor sich geht und auf welche Weise die Bereiche miteinander vernetzt sind, ist noch weitgehend unbekannt. Aus Tierexperimenten weiß man, dass Verletzungen des Mandelkerns bei vielen Tierarten die Verteidigungsangriffe verringern. Diese Ergebnisse wurden leider auf äußerst zweifelhafte Experimente in der Psychochirurgie übertragen, etwa indem man gewalttätig aufgefallenen Menschen den Mandelkern entfernte, um so ihre Gewaltbereitschaft zu reduzieren. Tatsächlich erreichte man damit eher eine allgemeine emotionale Verflachung. Aufgrund solcher Befunde bleibt völlig offen, warum eine Verletzung des Mandelkerns ausgerechnet bei Ulrike Meinhof zu einer erhöhten unkontrollierten Aggressivität hätte führen sollen.

Welche Verhaltensänderungen durch eine Verletzung des Mandelkerns und des umliegenden Gewebes ausgelöst werden können, ist also kaum vorherzusagen. Die Hirnforschung berichtet auch von Hirnverletzungen, die persönlichkeitsverändernd wirkten und aggressives Verhalten auslösten. So ist der Fall des Phineas Gage in die Medizingeschichte eingegangen, dessen Hirn 1868 bei einem schweren Explosionsunfall von einer Eisenstrange durchbohrt wurde. Erstaunlicherweise überlebte Gage diesen Unfall nicht nur, sondern war nach kurzer Zeit wieder voll einsatzfähig. Doch es mehrten sich Klagen über Gage. War er vorher ein umgänglicher Kollege, wurde jetzt Kritik über ihn laut. Seit dem Unfall wurde er als ganz wesensverändert beschrieben, als ungeduldig und starrsinnig, gleichzeitig jedoch auch als unberechenbar und schwankend: "Es scheint", so der zeitgenössische Befund, "als seien seine intellektuellen Fähigkeiten und seine animalischen Neigungen aus dem Gleichgewicht geraten".

Gages Wesenswandel wurde mit dem Unfall in Verbindung bebracht, und seither weiß man, dass Persönlichkeitsstrukturen im vordersten Gehirnbereich angesiedelt sind. Kommt es hier zu Verletzungen, kann es zu Persönlichkeitsveränderungen kommen. Ulrike Meinhof aber wurde in einem ganz anderen Gehirnareal operiert, das eher für Gedächtnis und Emotionen eine Rolle spielt. Eine Persönlichkeitsveränderung als Spätfolge der Operation ist wenig wahrscheinlich. Aus dieser Verletzung eine eingeschränkte Schuldfähigkeit abzuleiten, wäre reine Spekulation, die den Erkenntnishorizont der Hirnforschung überschreitet. Um diese Fragen zu klären, wären detaillierte neuropsychologische Tests vor und nach der Operation notwendig gewesen, die nicht ersetzt werden können durch anekdotische Berichte von Verwandten oder politisch obskure Vergleiche wie mit dem schizophren-paranoiden Lehrer Ernst August Wagner, der 1913 in Schwaben 14 Menschen erschoss. Viel wahrscheinlicher ist, dass die hirnorganischen Auffälligkeiten nur die bereits schon früher bekannten Folgen hatten: Kopfschmerzen und leichte Doppelbilder.

Entsorgung in die Psychiatrie

Schon einmal wurde versucht, Ulrike Meinhofs Schuldfähigkeit zu bezweifeln und ihre politische Rolle zu pathologisieren. 1973 sollte sie im Rahmen der Täterprofilierung zwangsuntersucht werden. Das scheiterte damals an öffentlichen Protesten. Offenbar ist die Zeit mittlerweile reif, die RAF-Geschichte auf eine Geschichte der Krankheit zu reduzieren und zu erledigen. Die Hirnforschung liefert für die politische Entsorgung der RAF jedenfalls keine gesicherten Vorlagen.

Der hemdsärmeligen Erledigung der RAF entspricht der pietätlose Umgang mit deren sterblichen Überresten. Während Meinhofs Angehörige das Gehirn von Ulrike Meinhof längst in Berlin begraben wähnten, soll ihr Gehirn erneut als Objekt der Forschung dienen.Vor wenigen Tagen mussten die zuständigen Stellen überdies einräumen, dass auch die Gehirne der obduzierten Leichen von Jan-Carl Raspe, Gudrun Ensslin und Andreas Baader spurlos verschwunden seien.

Im 15. und 16. Jahrhundert musste die aufkommende und wenig renommierte Kaste der Anatomen noch auf außerstädtischen Friedhöfen ihre Leichen ausbuddeln, um ihre nächtlichen Sektionen abzuhalten; später fanden sie ihre Präparate unter Straftätern. Die wiederholte Sektion des Gehirns der Ulrike Meinhof scheint die RAF-Mitglieder endgültig dorthin zu bringen, wo man sie schon immer haben wollte: In die psychiatrische Anstalt.

Michael Schaefer ist Soziologe und Psychologe an der Universität Magdeburg

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