Wer kennt schon Swasiland, den Kleinstaat zwischen Mozambique und Südafrika? Normalerweise taucht Swasiland in Europa nur in den Boulevardmedien auf, wenn König Mswati III., einer der letzten absoluten Monarchen Afrikas, für eine seiner elf Ehefrauen teure Limousinen in Deutschland ordert.
Die Wirklichkeit im Land sieht anders aus. Frühmorgens auf dem Markt in der Hauptstadt Mbabane. In langer Reihe sitzen Frauen an ihren winzigen Obst- und Gemüseständen, scherzen und lachen miteinander, an der Bushaltestelle drängeln sich die Schulkinder. Ungetrübtes Leben jedenfalls auf den ersten Blick. Aber fast jeder Zweite in Swasiland ist HIV-positiv. Mit 42,6 Prozent hat man es hier mit der weltweit höchsten Rate an AIDS/HIV- Infizierten zu tun, die Immunschwäche rafft die Bevölkerungsgruppe der 15- bis 45-Jährigen dahin. Schon heute fehlen überall Fachkräfte, viele Felder bleiben unbestellt, da gut die Hälfte der einstigen bäuerlichen Bevölkerung fehlt. 70.000 AIDS-Waisen zählte man 2005, nach UN-Angaben wird diese Zahl in fünf Jahren auf 120.000 gestiegen sein. Es gibt Orte, in denen kaum noch Erwachsene leben. Die durchschnittliche Lebenserwartung der Swasis liegt bei gerade einmal 34 Jahren, die niedrigste weltweit.
Spät, zu spät
Sandiné ist gerade 16 Jahre alt. Vor zwei Jahren starben ihre beiden Eltern innerhalb von sechs Monaten an AIDS. Gemeinsam mit ihren fünf jüngeren Geschwistern, für die sie jetzt allein verantwortlich ist, lebt sie in Egaleni, einem kleinen Dorf im Osten des Landes. Nach dem Tod der Eltern wusste sie vor allem eines: Es gab es keine Verwandten, und es gab auch fast keine Nachbarn mehr. Zum Glück fand sich Hilfe durch den Ortsvorsteher, den 75jährigen Sekiehl Sipho Mamba, der früher einmal Agrarminister von Swasiland war. Mit seinen kurzen weißen Haaren sieht er deutlich jünger aus, wozu auch das um die Hüfte getragene Leopardenfell beitragen mag, das ihn als traditionellen Heiler und Schamanen ausweist. "Vor drei Jahren rief die Regierung die Bevölkerung auf, etwas gegen AIDS zu tun", berichtet er. "So haben wir diese Waisenbetreuung eingerichtet. Ich bin von meinem Amt zurückgetreten und wieder in das Dorf gegangen, in dem schon mein Großvater lebte. In unserer Kultur war immer jemand für die Waisen da. Es galt als selbstverständlich, dass sich die nächsten Angehörigen um zurückgelassene Kinder kümmerten. Inzwischen haben sich die Zeiten geändert."
Teilweise versagt das traditionelle Auffangsystem. Nach dem Tod der Eltern brechen die meisten Waisen die Schule ab, die nicht länger zu bezahlen ist. Viele Kinder sind durch Verwahrlosung und Missbrauch bedroht, so dass in Swasiland eine Generation der Verunsicherten und Traumatisierten aufwächst, die allein schon wegen der entbehrten Ausbildung kaum je in der Lage sein dürfte, Verantwortung für andere und damit in der Gesellschaft zu übernehmen.
"Wir bieten den Kindern hier zwei warme Mahlzeiten täglich, außerdem können sie bei uns zur Schule gehen", erklärt Sipho Mamba sein karitatives Werk. Mittlerweile betreut er 40 Waisen, die er stolz "meine Kinder" nennt. Noch sitzen sie beim Unterricht auf dem Boden, bald wird es auch Tische und Bänke geben, denn seit ein paar Monaten wird Sipho Mamba durch den Verein Hand in Hand aus Wiesbaden unterstützt, der den Neubau der Schule finanziert. Er habe den Unterschied gesehen, meint er, zwischen den Kindern, die verlassen und vereinsamt blieben, und denen, die jetzt seit zwei Jahren in Egaleni betreut würden. "Unsere Kinder sind gesünder, vor allem können wir ihnen das Gefühl vermitteln, wieder eine Zukunft zu haben." Wichtiges Thema in der Schule ist immer wieder die sexuelle Aufklärung, um offen über AIDS zu sprechen. "Eine unverzichtbare Voraussetzung, damit sich im Land etwas ändert", glaubt Sipho Mamba.
Die AIDS-Gefahr wurde in Swasiland lange Zeit geleugnet oder totgeschwiegen. Erst seit Mitte 2005 gibt es ganzseitige Anzeigen in den Zeitungen oder Plakatwände an den Straßen. "Ngoba likusasa nelami" (Weil Morgen mir gehört) ist dort zu lesen. Man sieht auf den Aushängen junge Menschen im goldenen Licht einer aufgehenden Sonne, denen Sprüche zugeordnet sind: "Ich will meine Ausbildung zu Ende bringen. Ich denke an meine Zukunft. Sex kann warten."
Spät, zu spät, sagen viele. Wenn dieses Jahr zu Ende geht, werden wieder 20.000 Menschen an der Infektion mit dem HI-Virus gestorben sein. AIDS lässt eine Generation sterben, die eigentlich antreten müsste, Ökonomie und Gesellschaft am Leben zu erhalten.
Es sind der Tradition geschuldete Bräuche, es ist nicht zuletzt der christliche Glaube, der die Verbreitung von AIDS in Swasiland begünstigt. Männer dürfen mehrere Frauen haben, der Gebrauch von Kondomen wird verteufelt, es grassiert der Mythos, sich von Aids heilen zu können, indem man mit einer Jungfrau schläft.
Verdammt wenig
Das Good Shepherd Hospital am Rand von Mbabane ist eines von nur drei Krankenhäusern im Lande. Vor den beiden Flachbauten sitzen Frauen und kochen. Wie überall in Afrika müssen die Verwandten die Versorgung der Kranken übernehmen. Durch die Tür der Ambulanz, vor der eine lange Schlange wartet, hört man Lieder. Vielleicht lässt sich dem Leid und der Hoffnungslosigkeit nur mit einem starken Gemeinschaftsgefühl begegnen. Und so beten die Pfleger und Schwestern jeden Tag: "Gott möge uns die Kraft geben, der Seuche AIDS die Stirn zu bieten. Gott möge uns die Kraft geben, für die Kranken da zu sein."
Seit 25 Jahren arbeitet der indische Arzt Aby Philipp in Swasiland und führt seit einiger Zeit gemeinsam mit zwei anderen Medizinern dieses Spital, dessen Patientenzimmer oft überfüllt sind, überall apathische Kranke in ihren Betten.
"AIDS ist eine große Last für dieses Land. Wir erhalten zwar von der Regierung Geld, aber das hat noch nie gereicht. Noch nicht einmal, um das Personal zu bezahlen. Manchmal wissen wir nicht, wie es weitergehen soll. Die Leute hier sind so krank, und wir haben kaum Medikamente. Wir tun, was möglich ist, aber das ist so verdammt wenig."
Während die ambulante Versorgung beginnt, beladen zwei Schwestern einen Jeep mit Medikamenten und Lebensmitteln. Um auch Menschen in entlegenen Gebieten Swasilands versorgen zu können, hat das Krankenhaus vor ein paar Jahren das Home Base Care Program begründet. Mpumi Mdlalose, seit 25 Jahren Schwester im Good Shepherd Hospital, strahlt in ihrer weißen Bluse und dem roten Hut auf dem Kopf unbändige Energie aus, auch wenn sie wie an diesem Tag die Siedlungen, in denen Hilfsbedürftige auf sie warten, nur zu Fuß erreichen kann. "Wir müssen zu den Menschen gehen, weil sie nicht zu uns kommen können. Wir haben schon viele in ihren Hütten gefunden, die nur noch vor sich hin vegetierten, weil niemand mehr da war, der ihnen half."
Die meisten Menschen auf dem Land leben noch wie vor Jahrhunderten. Nur jeder Fünfte von ihnen hat laut einer Umfrage schon einmal in einem Auto gesessen. Blutdruckmessen, Atmung abhören, Lymphknoten abtasten, die Werte, das Befinden der Patienten knapp notieren - viel mehr können Helfer wie Mpumi Mdlalose in der Regel nicht tun. Um so wichtiger ist für die Kranken der seelische Beistand und das Gefühl, nicht vergessen und aufgegeben zu sein. Eine Sisyphusarbeit für die Schwestern, denn pro Tag werden in der Region, die sie als Hilfsdienst bereisen, im Durchschnitt 300 Neuinfektionen mit dem HI-Virus registriert.
Ein paar Kilometer weiter auf ihrer Tour besucht Mpumi Mdlalose eine kranke Frau, die auf einer alten Decke im Schatten eines Baumes vor ihrer Hütte sitzt. Auch hier den Puls fühlen, Blutdruck messen, die Herztöne abhören. Der wichtigste Augenblick ihres Besuches aber ist der, als sie einen Sack Mehl und einige Lebensmittel ablädt, die von den Kindern sofort mit großem Freudengeschrei quittiert werden.
"Unser großes Problem sind die chronischen Krankheiten, die durch HIV hervorgerufen werden, allen voran Tuberkulose", erzählt Dr. Aby Philipp. "Wir haben viele Patienten, die wir zunächst zu Hause behandelt haben, die aber nun alle hierher kommen, in einem schlechteren Zustand als jemals zuvor. Doch unsere Betten sind voll belegt mit Patienten im letzten AIDS-Stadium, die nur noch wenige Tage zu leben haben. Vor allem die Tuberkulose bringt de Menschen um, die Bakterien sind größtenteils resistent gegen die Medikamente, die wir geben können."
An einer alten Tankstelle in einem Vorort von Mbabane liegt das Büro des National Emergency Response Council on HIV/AIDS (NERCHA), der die Anti-AIDS-Kampagnen im Land organisiert. Logo von NERCHA ist der traditionelle Kriegsspeer der Swasikrieger, abgebildet vor der roten AIDS-Schleife, ein Kampfsymbol. "Heute wird sehr viel über sexuelles Verhalten geredet, in den Zeitungen, im Radio und Fernsehen, in den Schulen. Das verändert das Land", sagt die Koordinatorin Tembi Gama. "Die Frauen tragen bei alldem die größte Last. Sie kümmern sich um den Haushalt und die Kinder, bringen das Essen auf den Tisch - und wenn die Frau krank wird oder im Sterben liegt, hat sie immer noch die Sorge, wie die Kinder nach dem Tod der Eltern überleben können, wo und wie sie versorgt werden, auch darum kümmern sich in erster Linie die Frauen".
Der Kampf gegen AIDS ist in Swasiland ein Kampf um das Überleben eines Volkes. Eltern sterben, Onkel, Tanten und Geschwister, Lehrer, Polizisten, Bauern, Arbeiter und Angestellte. Täglich werden es mehr. Im nächsten Jahrzehnt wird mit einem Bevölkerungsverlust von fast einem Drittel gerechnet.
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