Alles dreht kopf

Virtuelle Realität Die Spielebranche steht jetzt kurz davor, das „Holodeck“ für alle erlebbar zu machen
Ausgabe 42/2015
Noch mehr Hardware: HMDs, „Head-Mounted Displays“
Noch mehr Hardware: HMDs, „Head-Mounted Displays“

Foto: Joel Saget/AFP/Getty Images

Vollkommen in die virtuelle Welt eintauchen zu können – das gelingt in der populären Science-Fiction-Serie Star Trek seit den 70er Jahren mit dem sogenannten Holodeck. Der Raum ermöglicht durch die Erschaffung einer visuellen, akustischen und sogar haptisch wahrnehmbaren virtuellen Umgebung ein Versinken in künstliche Räume, das Gefühl kompletter Immersion. Die virtuelle Welt wirkt real. Heute scheint das echte Holodeck technisch noch immer in weiter Ferne zu sein, einige Wissenschaftler bezweifeln sogar gänzlich, die fiktive Star-Trek-Technologie jemals umsetzen zu können. Ein neuer Schritt in Richtung Holodeck könnte immerhin zur Jahreswende gegangen werden. Dann sollen die ersten Virtual-Reality-Brillen auf dem Markt erscheinen. Das könnte zumindest den Medienkonsum revolutionieren.

Bei den vergangenen wichtigen Unterhaltungselektronikmessen dieses Jahres wie zuletzt der Gamescom in Köln (der weltweit größten) präsentierten alle großen VR-Hersteller die neuesten Versionen ihrer Brillen. Das im vergangenen Jahr für zwei Milliarden US-Dollar von Facebook gekaufte Unternehmen Oculus VR führte die Verkaufsversion seiner „Rift“ genannten Brille vor, die Anfang 2016 in die Läden kommen soll. Sony zeigte die für seine Playstation-Konsole bereits fertig entwickelte Brille mit dem Namen Morpheus. Und am Stand des Elektronikkonzerns HTC konnte man die in Zusammenarbeit mit dem Videospielhersteller Valve entwickelte Vive-Brille ausprobieren.

Zwar bestehen alle VR-Systeme aus einer Brille mit hochaufgelösten Displays für jedes Auge, es gibt aber auch Unterschiede. Um die Kopfbewegungen präzise in der virtuellen Welt umzusetzen, sind kleine Kameras nötig. Die Vive von HTC erfasst die Position der Brille mittels mehrerer Laser, was es dem Nutzer erlaubt, sich vollständig umzudrehen und im Raum zu bewegen. Das wird sich allerdings auf den Preis des VR-Systems auswirken.

Zwar halten sich dazu noch alle Hersteller bedeckt, Experten rechnen bei der Vive aber mit etwa 700 US-Dollar, die Oculus Rift soll anfangs vergleichsweise günstige 500 US-Dollar kosten – genauer zeigen wird sich das aber erst kurz vor Weihnachten. Dann sollen erste Exemplare der Vive auf den Markt kommen. Die anderen Produzenten wollen im Frühjahr und Sommer des kommenden Jahres mit dem Verkauf beginnen – Sonys Morpheus-Brille ist zwar schon fertig, passende Software aber noch nicht. Fehlende Nutzungsmöglichkeiten sind nur eins von vielen Problemen der kommenden VR-Systeme.

Viele Videospielhersteller bieten nämlich bereits Grafikeinstellungen für VR-Brillen an, speziell auf die VR-Systeme abgestimmte Spiele gibt es aber noch nicht. Das liegt auch an einem grundsätzlichen Problem: Sich in der virtuellen Umgebung durch das reale Bewegen des Kopfs umzugucken, um zu laufen, zugleich aber noch den Stick des Controllers oder eine Taste drücken zu müssen, fühlt sich „falsch“ an. Daher werden zunächst Spiele von VR profitieren, bei denen der Spieler in der virtuellen Umgebung sitzt. Das mittlerweile eigentlich veraltete Genre der Rail-Shooter, bei denen der Spieler unbeweglich von einer festen Position oder einem Fahrzeug aus Gegner abschießen muss, könnte ein Revival feiern. Sony zum Beispiel beeindruckte bei der Gamescom mit einer virtuellen Autoverfolgungsjagd, bei der die Spieler vom Beifahrersitz aus dem fahrenden Auto schießen mussten. Der französische Spieleproduzent Ubisoft hatte bei der Messe in Köln das VR-Spiel Eagle’s Flight dabei. In dem Technologiedemonstrator steuert man einen Adler durch die eigene Kopfbewegung.

Auch Spiele, bei denen man in einem Kampfflugzeug oder Raumschiff sitzt, sind gut für die kommenden VR-Systeme geeignet. Zudem könnte man in fiktiven Weltraumflugsimulationen die virtuelle Steuerung im Spiel an die realen Tasten von Playstation- oder Xbox-Controllern anpassen und die Immersion dadurch nochmals verstärken. Gleiches gilt für Rennspiele: Heute ist es oft umständlich, sich im virtuellen Fahrzeug umzusehen und die Konkurrenten auf der Strecke ausfindig zu machen. Mit VR-Brillen muss man bald nur noch den Kopf bewegen. Mit den zur Verwendung an Konsolen oder dem Computer schon ausgereiften Lenkrädern, Pedalen, Schaltknüppeln und Rennsitzen wird das Unmittelbarkeitsgefühl nahezu perfekt.

Für das „falsche“ Gefühl beim Laufen gibt es derweil Lösungsversuche – mit noch mehr Hardware. Gleich mehrere Hersteller arbeiten an Plattformen, um auf der Stelle laufen zu können. Auf einer kreisrunden glatten Fläche bewegt man sich beim Cyberith Virtualizer auf Socken, beim Modell Omni des Produzenten Virtuix benötigt man dazu spezielle Schuhe. Um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, sind die Spieler bei beiden Systemen jeweils über einen Hüftgurt mit einem Rahmen verbunden, in dem sie sich frei umdrehen und beim Virtualizer sogar in die Hocke gehen können, was dann vom Spiel erkannt wird. Im Wohnzimmer wird man die platzraubenden Geräte aber dauerhaft wohl nicht stehen haben wollen.

Auch die normalen VR-Systeme benötigen Platz. Mit HTCs Vive kann man sich mehrere Meter frei durch den Raum bewegen, kurz vor einer realen Wand blendet die Software des VR-Systems rote Warnlinien ins Sichtfeld des Nutzers. Das heißt: je mehr Platz, desto größer die VR-Bewegungsfreiheit. Mit dem Aufkommen der VR-Technologie könnte also ein Ort mit neuem Leben gefüllt werden, den der immer kompakter werdende Heimcomputer überflüssig gemacht hat: der reale Hobbyraum im Keller. Denkbar wäre ebenfalls – wie am Anfang des Videospielzeitalters –, dass spezielle Spielhallen öffnen könnten, in denen man sich VR-Räume stundenweise mieten kann.

360-Grad-News

Denn ob die Systeme wirklich massentauglich sind und es in ein paar Jahren in jedermanns Haushalt geschafft haben, ist fraglich. Die Kosten sind vermutlich hoch, die Technik braucht Platz und muss teilweise sogar fest installiert werden. Da der Datentransfer hoch ist für die HD-Bilder in die Brillen und die Bewegungserkennung zurück, sind alle bisherigen Systeme zudem mit einem störenden Kabel ausgestattet. Offen ist überdies noch, wie lang es sich mit den VR-Brillen aushalten lässt: Die an Taucherbrillen erinnernden VR-Systeme sind nicht immer angenehm zu tragen, weil sich unter den Brillen die Hitze staut. Zudem klagen Tester über Übelkeit. Ähnlich wie beim 3-D-Kino verträgt nicht jeder das VR-Erlebnis.

Es stehen also noch etliche Fragezeichen hinter der Behauptung, dass Virtual-Reality-Systeme the next big thing werden. In jedem Fall bietet die Technologie viele Möglichkeiten – nicht nur im Videospielbereich, sondern auch für Film und Fernsehen. Statt nur auf einem Bildschirm könnte sich das Publikum künftig in einer Szene umsehen und damit noch intensiver im Geschehen sein. Einige Nachrichtenmedien experimentieren aktuell bereits mit 360-Grad-Videos, bei denen sich die Nutzer frei umsehen können.

Der Nachteil bei der Nutzung von VR für filmische Zwecke besteht in der mangelnden Fokussierung auf wichtige Szenen. Wenn der Nutzer in einem Film eine relevante Handlung nicht mitbekommt, weil er gerade zufällig in eine andere Richtung guckt, funktioniert die Geschichte vielleicht nicht mehr. Dasselbe gilt für Nachrichten: Zwar tauchen die Zuschauenden in das Geschehen ein – etwa eine Demonstration – und können sich einen Eindruck machen, entscheidende Details könnten ihnen aber entgehen. Interessant ist auch die Frage, wie Facebook die VR-Technologie nutzen will. Nach dem Kauf von Oculus wurde spekuliert, ob das soziale Netzwerk in Zukunft begehbar werden soll. Davon zu sehen war bisher aber nichts.

Die virtuelle Realität bleibt vorerst das seit Star Trek so plastische Versprechen. Mögliche gesellschaftliche Nebenwirkungen, etwa der Eskapismus der Nutzer, werden dort auch schon thematisiert: In der Science-Fiction-Welt gibt es ein eigenes Wort für den ständigen Wunsch nach der Immersion, für den zu intensiven Gebrauch dieser Technik: Holosucht.

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