Ich laufe über einen Marktplatz. Rechts einige Kisten mit Gemüse, links Hühner in kleinen Käfigen. Plötzlich stürmt eine vermummte Person um die Ecke. Ich ziehe meine Waffe und schieße. Blut spritzt. Der Vermummte sackt zu Boden. Hat mich jemand gehört oder gesehen? Anscheinend nicht. Und eigentlich befinde ich mich nicht auf einem umkämpften Marktplatz, sondern sitze in Sicherheit und aller Ruhe auf dem Sofa, einen Controller in der Hand, und schaue auf meinen einige Meter entfernten Bildschirm.
Doch bald schon könnte sich der Marktplatz echter anfühlen. 2014 soll mit „Oculus Rift“ eine Virtual-Reality-Brille auf den Markt kommen, die dank empfindlicher Bewegungssensoren und hoher Hertz-Zahl ein neues Videospiel-Gefühl
efühl verschafft. Der Spieler soll ins Spiel eintauchen, eine noch nie dagewesene Immersion erreicht werden: Dreht er seinen Kopf, tut das ohne Verzögerung auch sein virtueller Avatar. Noch bereitet die bei Nutzern der Testmodelle verursachte motion sickness, durch Täuschung der Sinnesorgane hervorgerufene Übelkeit, den Entwicklern Probleme. Der Hersteller Oculus VR verspricht, das bis zur Marktreife behoben zu haben. Ein anderes Problem wird sich technisch aber nicht lösen lassen: Mehr Spieltiefe heißt auch ein anderes Spielgefühl.Schmaler KanonJemanden wie in der anfangs geschilderten Szene mit einem First-Person-Shooter zu erschießen ist etwas anderes, als mit der Virtual-Reality-Brille selbst im Spiel zu stehen. Zwar hat man auch mit der Brille einen Controller in der Hand zur Bewegungs- und Aktionssteuerung, das Geschehen wirkt aber viel näher: Mit dem Kopf im Spiel. Ein Schwertkampf- oder StarWars-Game, in dem man seinem virtuellen Widersacher aus kürzester Entfernung die Gliedmaßen abschlägt, könnte schockierend wirken. Im offiziellen Entwickler-Forum wird bereits eifrig über die Umsetzung von Schwertkampfspielen diskutiert – bislang nur über technische Fragen.Der Videospiel-Buchautor Christian Huberts geht von einem Erfolg der Oculus Rift aus – auch wenn die Brille nicht zur Standard-Peripherie für die Rezeption von Videospielen werden wird: „Ähnlich wie beim 3-D-Kino wird sich die Oculus-Nutzung langfristig auf einen relativ schmalen Kanon spezieller Spiele konzentrieren, die kurze, auf visuell-atmosphärisch-kinetische Eindrücke fokussierte Erfahrungen bieten.“ Das Erlebnis virtueller Gewalt könne dabei laut Huberts tatsächlich vom bisherigen Erleben abweichen: „Als Spielerin wird man zunächst ein intensiveres Gewalt-Erleben näher am eigenen Leib erfahren, das sich aber, wie bei früheren Aktualisierungen, mit der Zeit abnutzt, sich nach ein paar ‚Skandalen‘ normalisiert.“ Die Virtual-Reality-Brille wird den staatlichen Jugendmedienschutz zu einer Reaktion zwingen. Die in Deutschland für die Altersfreigaben von Videospielen verantwortliche Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle (USK) hat die Oculus Rift bereits getestet: „Bis jetzt lag allerdings noch kein Spiel vor, das Oculus Rift nutzt“, sagt Felix Falk, der USK-Geschäftsführer.Fundamentale Änderungen für die Spruchpraxis bei Alterseinstufungen sieht er mit Blick auf die sich veränderte Hardware der vergangenen 20 Jahre nicht. Die Oculus Rift scheint für die Jugendmedienschützer momentan nichts Besonderes zu sein. Dabei gibt es – obwohl bisher nur Entwicklerversionen der Virtual-Reality-Brille im Umlauf sind – bereits Grafikmodifikationen bekannter Militärspiele wie der der Battlefield- und Call of Duty-Reihe. Für das Weltriegs-Luftkampf-Spiel War Thunder ist bereits eine Rift-Umsetzung entwickelt.Sicher ist, dass die Brille Videospielkritiker auf den Plan rufen wird. Bei der Neubewertung der virtuellen Gewalt – auch durch die USK – wird es vermutlich der falsche Weg sein, die Gewaltdarstellungen durch verharmlosendere Darstellungen zu ersetzen oder sie in einem Akt der Zensur ganz zu verbieten: Wenn ein Akteur in der virtuellen Welt getötet wird, sollte das nicht unblutig und ohne Leid dargestellt werden. Gewaltverharmlosung kann auch Kriegsverherrlichung sein.Noch ist die Videospielbrille nicht erschienen, und es bleibt abzuwarten, wie die Reaktion der Nutzer ausfallen wird, wenn Call of Duty oder andere schnelle First-Person-Shooter mit Oculus Rift gespielt werden. Überforderung beim Spieler wäre eine Möglichkeit, denkbar aber auch eine Reduktion der Gewalterfahrungen im Spiel durch die Hersteller. Videospiele, die zu Shootern verkommen sind wie die Tomb Raider-Reihe, könnten wieder zu ihren Wurzeln zurückkehren, zum Abenteuer des Entdeckens und Erforschens, bei dem gewalttätiges Handeln nur eine Randerscheinung war.Die Oculus Rift wird eine neue Dimension in der Virtualität erreichen und damit neue Diskussionen über das Verhältnis von Realität und Virtualität herausfordern. Einen Endpunkt der Entwicklung wird sie nicht markieren. Weitere Schritte wie Vollkörper-Tracker werden folgen.