Ein schöner Zufall

SPRACHSORGFALT Uwe Timms neuer Erzählband »Nicht morgen, nicht gestern«

Die reine, reine Freude, hatte die Fotografin empfunden, wenn sie an ihre bevorstehenden walisischen Ferien mit Marc gedacht hatte. Die beiden kennen sich noch nicht lange, bisher war alles harmonisch. Marc schlägt sich als Reiseleiter durch; gerade hat er noch ein paar Bildungstouristen durch das Haus von Dylan Thomas geführt, aber jetzt hat er zwei Wochen frei. Wie aus heiterem Himmel wird er schroff und verletzend. Die Fotografin bemüht sich um Verständnis, aber als Marc zu weit geht, steigt sie aus dem Auto.

Nicht morgen, nicht gestern, Uwe Timms Erzählung eines kurzen Glücks und einer schnellen Trennung, ist eine dicht konstruierte klassische Kurzgeschichte. Lange vor der Fotografin weiß der Leser um das Ende der Liebe, denn der Text wimmelt von variierenden Wiederholungen, Leitmotiven und anderen Voraussetzungeen. Auch die Natur ist symbolisch. Diese Erzählmittel könnten altmodisch wirken, würde Timm sie nicht an einer entscheidenden, für das ganze Buch - und für all seine Bücher - gültigen Stelle von der Fotografin kommentieren lassen. Als sie zum zweiten Mal zwei Möwen in der Luft sieht - zuvor »unbeweglich«, jetzt »im Flug« - sagt sie, das sei »ein schöner Zufall«. Kompositorisch ist es natürlich nichts weniger als das. Timm meint damit: Die inneren Bezüge, die Formtricks einer traditionell erzählten Geschichte müssen zufällig scheinen, damit klar wird, daß sie nicht um ihrer selbst willen da sind. Sie dienen nicht der Virtuosität und dem unterhaltungsliterarischen Effekt, sondern sie sind unterhaltsam und virtuos einzusetzende Mittel, durch die der Leser etwas über die beschriebenen Menschen erfährt, was sonst schlechter gesagt wäre.

Daß es möglich ist, sich in Leute einzufühlen, denen man nicht ähnelt, beweist Timm durch die Wahl seiner Hauptfiguren und Erzählperspektiven. In drei der sechs neuen Geschichten gibt es zwar einen autorennahen Ich-Erzähler, aber der ist nur Beobachter (einer Ehe in Das Abendessen), Zuhörer (der Wendegeschichte von Vera und Lisaweta, die ein russisches Jagdflugzeug verkaufen wollen) und Hineingezogener (in die Temperamentsexzesse seines Kollegen Steiner in Das Schließfach). »Nicht morgen, nicht gestern« erzählt die Fotografin, Screen, ein 24jähriger Computerfreak, und in Der Mantel blickt eine alte Pelznäherin auf ihr Leben zurück, allerdings nicht in Ich-Erzählung: Sie ist zu traurig für lange Reden.

Timms Figuren unterscheiden sich an der Sprachoberfläche. Sie verwenden andere Wörter und einen anderen Stil, manche neigen zu kurzen Sätzen, manche zu langen. Das alles ist jeweils kennzeichnend - und verdeckt nicht das Gemeinsame: Die Sprechenden und Beschriebenen werden durch Sprache verständlich, nicht unbedingt sich selbst, aber immer dem Leser. Timm ist, was zur Zeit konservativ wirkt, Aufklärer geblieben: Mit Sprache kann man seiner Ansicht nach herausfinden und begreiflich weitersagen, wie etwas ist. Gegen Sprachskepsis hat er sich für Sprachsorgfalt entschieden. (Nur der letzte Korrekturdurchgang hätte mehr bringen können: Vor Dylan ist zweimal von »Dylon« Thomas die Rede, mit »Alfred« ist einer der Pianisten Artur und Anton Rubinstein gemeint, eine Elke heißt einmal Karin, und die Konjunktive stimmen auch nicht alle.)

Seit 1971 ist der 1940 geborene Uwe Timm ein fleißiger freier Schriftsteller. Auf eine 1968er Art schildert er die Menschen als marktbedrängte Gesellschaftswesen; nicht übernommen aus dieser Zeit hat er das Pathos, die Dogmen, die Ichbezogenheit, das große Maul. Statt dessen schreibt er eine gute Geschichte nach der anderen. Die meisten verknüpft er zu Romanen. Auch die Geschichten aus Nicht morgen, nicht gestern, seinem ersten Erzählband, spielen teilweise aufeinander an, teilweise auf die Romane Kopfjäger (1991) und Johannisnacht (1996). Wenn Autoren, die sich nur für die mäßig aufregende eigene Person interessieren, ein Gegenteil hätten: Das wäre Uwe Timm.

Uwe Timm: Nicht morgen, nicht gestern. Erzählungen. Verlag Kiepenheuer Witsch, Köln 1999, 158 Seiten, 29,80 DM

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