Der pietistisch-protestantische Pfarrer Johann Caspar Lavater (1741 - 1801) in Zürich nahm die Bibel wörtlich. Wenn Gott den Menschen "sich zum Bilde" geschaffen hat, dürfte er nichts dem Zufall überlassen haben. Das Gesicht sagt alles über den Charakter. Jede Nasenlänge, jede Lippenbreite, jeder Augenwinkel ist ein Zeichen; wer versteht, weiß Bescheid über die Menschen und hat begonnen, Gott zu erforschen. So dachte Lavater, der Wiederbegründer und bis dahin größte Systematiker der Physiognomik. Die Minderwertigen zu ermitteln, traute er sich zu: "Je moralisch besser, desto schöner, je moralisch schlimmer, desto häßlicher."
In Jens Sparschuhs Roman Lavaters Maske recherchiert ein Schriftsteller von heute hinter dem Gesichtskundler her. Der Ich-Erzähler möchte für den lange Zeit erstaunlich gutwilligen Filmproduzenten Haffkemeyer ein Drehbuch verfassen. Darin soll es auch um den Schreiber Gottwald Siegfried Enslin gehen, der sich 1779 in Lavaters Diensten erschoss. Der Schriftsteller sucht die vielleicht erotische kriminelle Geschichte hinter dieser Geschichte, würde gerne den vertuschten Skandal des frommen Lavater finden. In der Züricher Zentralbibliothek interessiert sich noch jemand anderes für die vorher jahrzehntelang unbeachteten Handschriften des Physiognomen: die aufregende Dr. Magda Szabo. Ihre Firma Personel Consulting - nicht "Personal", einer von vielen derartigen Fehlern - berät Politiker und Wirtschaftsbosse, die ein verkäufliches Gesicht brauchen, und hätte dazu gerne die "Verhältnisgleichung" der "optimalen Gesichtsrelation", nach der Lavater angeblich gesucht hat. Der Schriftsteller hat eine liebe, aber nicht so aufregende Freundin mit Sohn. Er muss in einer Volkshochschule lesen und danach bei einer mutmaßlich schwäbischen Familie übernachten. Im Rahmen des Wühlischheimer Literaturstipendiums hat er in einer Burg zu wohnen, in der alle Gewalt vom Hausmeister ausgeht. Dann gerät er auch noch in eine Talkshow. Und was des Komischen mehr ist.
Sparschuhs Roman Der Zimmerspringbrunnen (1995) hatte ich mit großem Vergnügen gelesen. Es hat mich daher nun überrascht, wie schlecht Lavaters Maske stellenweise geschrieben ist. Die Konstruktion ist zwar gelungen: Die Charaktere wirken plastisch, und wenn man gerade auf eine Lösung gespannt ist, unterbricht Sparschuh den Handlungsfaden und macht erst einmal mit einem anderen weiter. Aber im Kleinen pfuscht der Autor. Sparschuh weiß nicht, wann welcher Konjunktiv stehen muss und wann welches Tempus. Er klingt manchmal wie ein gequält witziger Krimi ("Meine Lippen modellierten tonlos diesen teuren Namen"), manchmal wie ein ausgebrannter Journalist ("mit traumwandlerischer Sicherheit") und manchmal wie ein Verwaltungsfachwirt ("Nach Absolvierung der Lateinschule"). Wie konnte das passieren? Erste Möglichkeit: Der 1955 geborene Autor war zwischendurch nicht gut in Form, und der Lektor hat es ihm nicht gesagt (in einem anderen Kiepenheuer-Buch, Uwe Timms Nicht gestern, nicht morgen, heißt eine Elke einmal Karin, von weiteren groben Schnitzern abgesehen. Wahrscheinlich sind die geistigen Qualitätsarbeiter in diesem Verlag so überlastet wie fast überall). Zweite Möglichkeit: Rollenprosa. Auf diesen Verdacht, sein Autor lasse ihn aus gutem Grund schludrig reden, hat jeder Ich-Erzähler ein Recht, und dieser irritierbare sowieso: "Die Person im Spiegel winkte auch ganz brav zurück. (...) Doch sie tat es - und da setzte es regelmäßig bei mir aus - ganz ohne Zweifel mit der linken Hand." Aber wenn Sparschuh seinen Schriftsteller mit Absicht sprachlich schlingern ließe, müsste dieser Stil etwas bedeuten, was man nicht auch in gutem Deutsch sagen kann. Das ist nicht der Fall. Die Patzer stören.
Warum war es trotzdem angenehm, Lavaters Maske zu lesen? Wegen einer dritten Möglichkeit, einem Unterfall der ersten, die es nur gibt, wenn der Autor sie nicht beabsichtigt: ungewollter Rollenprosa. Sparschuhs Schriftsteller ist ein netter Kerl. Er möchte, dass alle ihm folgen können, und daraus resultiert seine sprachliche Hauptschwäche: die Überflüssigkeit. Den einzelnen Satz verstopft er mit verständnisfördernden Füllwörtern ("entsprechenden", "gewissermaßen", "geradezu", "gegenwärtig"). Die einzelne Pointe - der tote Max ist kein Mann, sondern ein Kater - treibt er über zwei Seiten. Aus der einzelnen netten Szene - zwei Touristinnen lassen sich fotografieren - lässt er die Luft heraus, indem er erklärt, was eine Kamera ist: "Es kam aber nur ein mattes Blitzchen, und die Aufnahme war im Kasten." So freundlich harmlos ist fast das ganze Buch. Sparschuh möchte Enslins und Lavaters Geschichte in die Gegenwart verlängern: Der Schriftsteller und die Seinen sollen etwas erleben, was so ähnlich schon die Alten umgetrieben hat. Das gelingt aber nicht. Enslin war ein armer Hund und Lavater, um das Mindeste zu sagen, eine Nervensäge; seine Berichte über Enslins Selbstmord sind eine unerfreuliche Lektüre. Sparschuhs Schriftsteller dagegen ist zutiefst gutartig. Er tut nichts Böses und leidet wenig. Mit Lavater verbindet ihn kaum etwas, deshalb begleitet man ihn gerne. Sparschuh hat nicht erreicht, was er wollte. So geht von seinem Buch ein Wärmestrom aus.
Jens Sparschuh: Lavaters Maske. Roman. Verlag Kiepenheuer Witsch, Köln 1999, 265 S., 38,00 DM
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