Batmans Beitrag

Bühne Milo Rau setzt seine Europa-Trilogie mit „The Dark Ages“ in München fort: sanft inszenierte Anekdoten über Verlust, Entwurzelung und Destabilisierung
Ausgabe 16/2015

In Zeiten des Kriegs ist Überleben vor allem Glückssache. Dass die fünf Darsteller von Milo Raus neuer theaterdokumentarischer Inszenierung The Dark Ages ihre Geschichten erzählen können, haben sie schicksalhaften Fügungen zu verdanken. Der bosnische Journalist und Menschenrechtler Sudbin Musić etwa, dessen Büro auf der Bühne des Münchner Marstalls nachgebaut wurde, sah sich und seine Familie von Soldaten bedroht, damals, im Juli 1992, als die Serben ein Massaker in seinem Dorf Carakova nahe der kroatischen Grenze anrichteten. Wäre Musićs Mutter nicht überraschend beherzt den Eindringlingen gegenübergetreten, hätten diese die Familie mit Sicherheit getötet.

Und hätte die bosnische Schauspielerin Vedrana Seksan zur Zeit der Belagerung Sarajewos beim Ticketvorverkauf für eine Abendvorstellung von Batman nicht eine halbe Stunde lang auf ihre Karte warten müssen, dann wäre sie wohl auf ihrem Nachhauseweg Opfer des ersten Massakers auf dem Markale-Platz geworden. Die Serbin Sanja Mitrović hingegen wundert sich noch heute, dass ihr Heimatdorf Zrenjanin niemals Ziel der NATO-Luftangriffe wurde. Trotz der Bedrohung oder gerade, um diese zu vergessen, feierte sie mit ihren Freunden ausgelassene Partys im nahe gelegenen Belgrad: „Es ist seltsam, aber ich hatte die beste Zeit meines Lebens während des NATO-Bombardements.“

Unten klein der Mensch

Wie die Kriegsvergangenheit wahrgenommen wird, mag sich unterscheiden, doch Milo Rau sucht und findet Analogien in den Biografien seiner Darsteller, die er für die zweite Folge seiner Europa-Trilogie aus ihrem Leben erzählen lässt. Nach dem in Zürich uraufgeführten ersten Teil The Civil Wars zieht der Schweizer in The Dark Ages Linien vom Ende des Zweiten Weltkriegs zu den Balkankriegen der 90er Jahre. Die Anekdoten geben Eindruck von einem europäischen Lebensgefühl, das von Erfahrungen des Verlusts, der Entwurzelung und Destabilisierung des Ichs geprägt ist.

Zu den drei Zeugen der Balkankriege, mit Aktivist Sudbin Musić als Bühnen-Newcomer, gesellen sich zwei Ensemblemitglieder des Residenztheaters: Manfred Zapatka, dessen Erinnerung zurück ins Jahr 1945 reicht, als er wegen einer Rauchvergiftung mit seiner Mutter und Geschwistern aus dem doppelt zerbombten Bremen ausquartiert wurde. Und Valery Tscheplanowa, die in jungen Jahren mit ihrer Mutter und deren neuem Lebenspartner aus dem russischen Kasan nach Schleswig-Holstein zog.

Im nüchternen Ambiente des Büroduplikats spinnen die Darsteller im Wechsel an den roten Fäden ihrer Lebensgeschichte. Ihr Duktus ist ruhig und leise, durch Mikroports jedoch deutlich vernehmlich. Zudem nehmen sie sich gegenseitig auf und erzeugen so ein Live-Videobild, das in Schwarz-Weiß auf eine Leinwand projiziert wird. Dadurch erweitert sich die intime Atmosphäre unter den berichtenden Lebensexperten auf den ganzen Zuschauerraum und macht Raus Spiel mit den Dimensionen des Erzählens augenscheinlich: Unten klein der Mensch, der sich erinnert. Oben groß das Bild, das ausschnitthaft sein Gesicht zeigt und ihm mehr Wirkmacht gibt.

Es ist vor allem und wie schon in Milo Raus Ruanda-Anklage Hate Radio oder seiner umstrittenen Attentätersuade Breiviks Erklärung ein Theater des Zuhörens, das er bewusst unspektakulär inszeniert, mit schulmäßig wirkenden Momenten der Veranschaulichung mittels einer Landkarte und Fotos, sowie prägnanten Filmeinspielungen. Dimiter Gotscheff ist da einmal als Hamlet in Heiner Müllers Hamletmaschine zu sehen, ein Video, mit dem Valery Tscheplanowa als Ophelia bei Gastspielen in Kuba interagierte, nachdem Gotscheff im letzten Jahr, kurz vor Abflug in die Karibik, seiner Krebserkrankung erlag. Insgesamt fasern die Geschichten thematisch aus, gehen von kriegsbedingten Krisen weg ins familiär Private. Rau versucht, diese Divergenzen durch breit gefasste Überschriften aufzufangen: Der mit Versuch über das Böse betitelte dritte Akt beinhaltet sowohl die Probleme, die Manfred Zapatka mit seiner intriganten Schwägerin hatte, als auch Vedrana Seksans Bekenntnis, dass sie während des Kriegs vorübergehend zur radikal denkenden Nationalistin wurde.

Alle Geschichten sind von Tod und Trauer durchdrungen, Hamlet spielt bei allen irgendwie eine Rolle. Die slowenische Kultband Laibach, die in den 90ern politisch aufgeladene Konzerte in Belgrad und Sarajewo gab, hat dazu einen sanften Soundtrack geschrieben, den Rau sparsam einsetzt. Nach der Uraufführung konnte man die Band live im Residenztheater erleben. Etwas überwältigend wurde dem Publikum da die antifaschistische Botschaft um die Ohren gehauen: Auf weiter Leinwand sah man Videos, in denen es von Hakenkreuzen und martialischen Emblemen nur so wimmelte. Rau geht in seiner Inszenierung im Kontrast – oder komplementär – dazu den leisen Weg des Worts. Das Bühnenbild von Anton Lukas setzt aber durchaus klare Zeichen. Da sah man am Anfang eine hochragende Kanzel vor festem Mauerwerk, gemacht für feierliche Reden, von oben herab. Um zu Musićs Büro zu gelangen, mussten die Darsteller die Bühne umdrehen: mit vereinten Kräften.

Theaterstück

The Dark Ages Regie: Milo Rau Residenztheater München

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