Hier habt ihr ihn, den roten Vorhang. Als Verführungsmittel des guten alten Repräsentationstheaters, mit dem sich Spannung und Vorfreude aufbauen lassen, hat er im Performancetheater neueren Datums eigentlich ausgedient. Hier ist er aber da, auf der Bühne. In Nicolas Stemanns Inszenierung von Anton Tschechows Der Kirschgarten hat das Relikt vergangener Zeiten gleich in doppelter Ausführung seinen Auftritt, unterteilt die Stemann-typische, bis auf ein paar Stühle und Mikroständer leere Bühne in ein Vorne und Hinten, für ein stetes Öffnen und Schließen. Was komische Effekte erzeugt und gleichzeitig nervt: Da fahren die Vorhänge zwischen die Sprechenden, verdecken die Sicht, verengen und erweitern den Raum, was dem Zuschauer einiges an Konzentration abverlangt.
Als Provokation kann man allein schon diese Spielerei empfinden, aber das Auf und Zu passt als Bild zum Inhalt des Kirschgarten: 1904 wurde das Stück aufgeführt, 1905 begann die Russische Revolution mit ihren sozialen Reformen. Tschechow siedelte sein Werk in dieser Umbruchszeit an: Die Veränderung zeichnet sich ab, die Menschen aber halten am Alten in Form des schönen Kirschgartens fest. Dieser soll abgeholzt werden, so schlägt es der Kaufmann Lopachin der Gutsbesitzerin Ranjewskaja vor, damit sie ihren Landsitz trotz Verschuldung noch retten kann. Ein paar Datschen könnten so auf das Gut gebaut werden, zur Vermietung an reiche Sommertouristen.
Bei Stemann ist die Vernichtung des Schönen schon von Anfang an abgemachte Sache. Baumstämme fallen immer wieder vom Bühnenhimmel krachend auf den Schnürboden, die Musiker Thomas Kürstner und Sebastian Vogel übertünchen mit Presslufthammerlärm und Schleifgeräuschen so manche beschauliche Textstelle. Für Stemann neu ist, dass er tatsächlich die Rollen spielen lässt, aber mit postdramatischem Hintersinn: Die Figuren sitzen in ihren Rollen fest, bedienen diese über alle Maßen. Christian Löber etwa nutzt als Tölpel Jepichodow wahrlich jede Gelegenheit zum Slapstick.
Die anderen Figuren, gerade die Hauptcharaktere, hat Nicolas Stemann, zumindest was das Alter angeht, gegen den Strich besetzt. Theaterlegende Ilse Ritter, mit ihren 72 Jahren viel zu betagt für die Rolle der Ranjewskaja, kehrt einen großzügigen, duftigen Diven-Charme heraus, der einer Gutsbesitzerin doch recht gut steht. Ihrem Gegenüber, dem kapitalistisch orientierten Lopachin verleiht der große, mit den Kammerspielen seit Jahrzehnten treu verwachsene Peter Brombacher die Würde und Melancholie des Alters. Lopachin kauft zuletzt den Kirschgarten, triumphiert nicht aber.
Der Kirschgarten, das sind im übertragenen Sinne eben auch die Kammerspiele selbst, deren Ausrichtung in der letzten Zeit verstärkt in den Feuilletons besprochen wurde. Von Krise war die Rede, weil im November letzten Jahres die Proben zur Inszenierung „Unterwerfung/Plattform“ nach den Romanen von Michel Houellebecq wegen vorzeitiger Abreise des Regisseurs Julien Gosselin abgebrochen werden mussten. Kurz darauf wurde bekannt, dass drei Größen aus dem alten Ensemble, Brigitte Hobmeier, Anna Drexler und Katja Bürkle, ihren Vertrag zum Ende der Spielzeit gekündigt haben. Hobmeier, ein Publikumsliebling in München, fühlte sich nicht genug eingebunden durch Intendant Lilienthal – und erlebte mit dem Kirschgarten nun ihre letzte Premiere am Haus.
Vorhang auf also noch mal für sie, auch das denkt Stemann mit, wenngleich er sie eigentlich mit einer kleinen, von Tschechow jedoch als wichtig bewerteten Rolle besetzt hat. Die Gouvernante Scharlotta Iwanowna ist eine Gauklerin, die im Gegensatz zu den anderen Figuren nicht weiß, wer sie eigentlich ist. Direkt nach der Pause lässt Stemann seinen Star in einem furiosen Solo all das zusammenfassen, was im ersten Teil passiert ist. Im Schnelldurchlauf nimmt Scharlotta alle Identitäten an, weil sie, die Identitätslose, das mit ihrer inneren Ungebundenheit auch kann. Gleichzeitig brilliert hier die Zauberin Hobmeier, die dem Publikum in rollenverliebten Zeiten manche schöne Illusion schenkte.
Die anderen Figuren kann sie mit einem Schnipsen zusammenfallen lassen und weckt Fähigkeiten, die in dem neuen Ensemble stecken. Hassan Akkouch darf als ewiger Student und linksdenkender Revolutionär unter dem Einfluss der Scharlotta einfach mal einen einarmigen Handstand vollführen. So nutzt Stemann den Kirschgarten als Plädoyer ans Kammerspiele-Publikum, das Alte loszulassen und das Neue weiter zu entdecken. Das könnte man in seiner Ironie arrogant finden, aber dann lässt Stemann doch gerade in der zweiten Hälfte viel Raum für Gefühl und große Spielmomente. Gegen Ende stehen sich die alten Kammerspiel-Recken Peter Brombacher und Annette Paulmann als unerfülltes Paar Lopachin-Warja sekundenlang in der Stille gegenüber. Viel Vergangenheit liegt zwischen diesen Figuren, zwischen diesen Schauspielern, und sie dürfen diese Chemie ausspielen.
Den Vorhang zerrt Brombacher herum, um Platz zu machen für die leere Bühne der Abreisenden. Der alte Diener Firs, den der junge Samouil Stoyanov spielt, bleibt allein zurück. Sein nostalgischer Blick geriert sich zu einer reaktionären Wutrede, wie man sie einem AfDler zuschreiben würde. Hier wird die Rückwärtsgewandtheit zum Extrem, aber Stemann verneigt sich auch vor den alten Spielern, die sich locker im heterogen zusammengewürfelten Ensemble behaupten, Performance hin oder her. Sein Kirschgarten ist ein Befreiungsschlag, furios in seiner Verbindung von Selbstbezug und Spiel.
Info
Der Kirschgarten Regie: Nicolas Stemann Münchner Kammerspiele
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