Manche Jahre saugen ein ganzes Jahrzehnt auf, als ob das, was zuvor geschah und nachher geschehen sollte, nur eine Art Polsterkissen ist für die eine essenzielle zeitliche Mitte. Was sich 1968 an Revolutionsgeist Bahn brach, von den Protesten gegen den Vietnamkrieg in den USA bis zu den Aufständen der Studentenbewegung in der BRD, hatte einen langen Vorlauf. Weshalb Klaus Theweleit, den man wohl einen Alt-68er nennen darf – immerhin war er damals Mitte 20 und nahm an der APO teil –, bei seinem als Teach-in titulierten Vortrag im ersten Stock der Münchner Kammerspiele zurück ins Jahr 1957 geht. Damals impfte Chuck Berry den School Days den Rock ein.
Ein bisschen Schulung kann nicht schaden. Schließlich versuchen die Kammerspiele mit dem Projekt 1968 einen
e mit dem Projekt 1968 einen performativen Rundumschlag über das berühmte Schlüsseljahr, was aber letztlich nur Stückwerk werden kann, weil die Ereignisse damals weltweit explodierten. Ein einziger Abend kann da doch nur eine eklektische Annäherung sein. Sieben kurze Inszenierungen haben die Kammerspiele in Auftrag gegeben. Die Dramaturgen Johanna Höhmann und Tarun Kade haben die einzelnen Puzzlestücke in den Proben begleitet und zu einer Zeitreise zusammengesetzt, die jedoch weniger analytisch in die Vergangenheit eindringt, als im Dienste einer Gegenwartsanalyse steht. Sprich: Was ist von den Revolutionsbestrebungen und gesellschaftlichen Erneuerungen der 68er übrig geblieben?Revolution ist ja heute noch gefragt, auch in der Kultur. In den Kammerspielen selbst sollte mit der Intendanz von Matthias Lilienthal ein frischer Wind wehen. Die Experimente gelingen jedoch nicht immer und nicht jedem gefällt der progressive Kurs. Die Auslastung der letzten Saison lag bei mageren 63 Prozent. Da ließen sich publikumswirksame Skandale einst leichter provozieren: Am 5. Juli 1968 sorgte Peter Stein mit seiner Inszenierung des Peter-Weiss-Stücks Viet Nam Diskurs im Werkraum der Kammerspiele für einen Eklat. Steins Schauspieler, darunter Kabarettist Wolfgang Neuss, winkten den Premierenapplaus ab. Neuss trat an die Rampe und forderte das Publikum auf, für Waffen an den Vietcong zu spenden. An den Ausgängen sammelten sie das Geld ein. Die Folge: Intendant August Everding musste die Inszenierung kurz nach der Premiere absetzen.Das, was ich will, bist duuuAls „eine Besetzung der Kammerspiele“ wird der Abend ausgegeben, was sich als harmlose Spielerei entpuppt. Das Bühnenbild verantworten Raumlabor Berlin, die schon an Lilienthals Shabbyshabby-Apartments beteiligt waren. Drang einst der lässige Berliner Look in Gestalt von billig eingerichteten Wohnbuden in den Münchner Stadtraum ein, so durfte das Publikum nun teilweise auf der Bühne der Kammerspiele sitzen. Das Parkett wurde aufgerissen, um Platz für ein paar weiße, proper aufgeblasene Staukissen zu machen, mit denen sonst Warenlieferungen stoßdämpfend abgepolstert werden. Freie Platzwahl dazu für die luftige Laune.Künstler und Zuschauer als eine Gemeinschaft im duften WG-Feeling – Bier wurde zwischendurch in Pappbechern gereicht. Und Rauchangebote? Fehlanzeige. Von Drugs, Sex & Rock ’n’ Roll handelt der Abend nicht, da musste man zuvor Klaus Theweleit zuhören, der vor allem von der sexuellen Revolution berichtete, die in der BRD durch die Musik der Amerikaner und Einführung der Antibabypille 1961 befeuert wurde. An Religion und Politik war die Jugend zunächst gar nicht interessiert, sondern an der Befreiung der Körper, am Sex als Ausbruchsversuch aus dem Bürgertum.Zum Einstieg der Revolutionsrevue treten die Kammerspiele-Schauspieler Thomas Hauser und Lukas Vögler jedoch in körperlicher Verkrampfung auf: die Blue Jeans weit hochgezogen, die langen Haare hinter die Ohren gekämmt, wie es für Wolfgang Neuss typisch war. Dem spüren sie als heutige Wiedergänger, Hauser mit hipsterigem Jute-Säckchen in der Hand, nach. Dazu Zitate aus dem delierenden Textnachlass des Kabarettisten, Sprüche wie „Weil der Mensch sucht, ist er süchtig“. Anstatt um Spenden zu bitten, beschenken die beiden einen Zuschauer mit Ohne dich von der Münchner Freiheit. Aha, ein Ständchen geben ist heute seliger als Geld nehmen. Und was ist schon freie Liebe angesichts der Sehnsucht nach dem einen Partner, ohne den man nicht einschlafen kann.Eine lustige Klamotte zum Einstieg, inszeniert von Leonie Böhm. Einen ganz anderen Tonfall schlägt das Kollektiv Gintersdorfer/Klaßen an, wenn es Frantz Fanons antikolonialistisches Manifest Die Verdammten der Erde von 1961, Inspirationsquelle der 68er, zum Ausgangspunkt für Fragen des heutigen Widerstands nimmt. Hauke Heumann übersetzt dabei dienstfertig das, was Gotta Depri und Franck Edmond Yao dem Publikum zum Teil wütend mitteilen: dass einer wie Alassane Ouattara, Präsident der Elfenbeinküste, den europäischen Politikern nach dem Mund rede. Ähnlich beklagte schon Fanon die Willfährigkeit Afrikas gegenüber Europa. Depri und Yao fordern das Publikum auf, den Satz „Ich werde immer ein genozidäres Monster sein“ zu skandieren. Wenn da draußen schon keiner zurückschlägt, kann die Selbstbezichtigung wenigstens heiter im Theater aufoktroyiert werden.Frantz Fanon verband den Marxismus mit Erkenntnissen der Psychoanalyse, nahm die Eruptionen antikolonialer Gewalt als Hervorbrechen unterdrückter Triebkräfte wahr. Die Rebellion gegen die Kolonialmächte lässt sich entfernt in Analogie setzen zum Aufbegehren der Jugend von 1968 gegen die Generation ihrer Eltern. Anna-Sophie Mahler beschäftigt sich in ihrem Performancepartikel mit ihrem eigenen Vater Eugen, einem Psychiater, der als Mitarbeiter von Alexander Mitscherlich in Frankfurt beauftragt wurde, Studenten in gemeinschaftlichen Sitzungen psychologisch zu betreuen.Im Video wühlt der Vater, mittlerweile 91 Jahre alt, im Wust des Gedächtnisses, erinnert sich an die Zeit, als seine Frankfurter Universität von Goethe auf Karl Marx umgetauft werden sollte. Am Klavier erzeugt Michael Wilhelmi einen dissonanten Soundtrack, während Jelena Kuljić und Yuka Yanagihara eine Art Requiem auf eine verlorene Zeit singen, wenn Kuljić nicht gerade die therapiebedürftigen Studenten gibt. Einige Stausäcke dienen ihr als Sitzunterlage, andere bilden im Hintergrund die Projektionsfläche für die Videos oder türmen sich auf zu einer gigantischen Skulptur: einer übermächtigen, weißen Vaterfigur.Als flexible Requisiten sind die Staukissen der weiße Faden durch ein loses Sammelsurium der freien Assoziationen. Stefan Merki aus dem Kammerspiele-Ensemble trägt ein Kissenknäuel auf seinem Rücken wie Sisyphos, um unter der Regie von Wojtek Klemm von einem Stein der Rebellion zu erzählen, der in Polen immer wieder gestemmt wurde. In einigen Fällen sogar lebensauslöschend, weil Revolutionäre wie Piotr S. den eigenen Körper als Zeichen des Widerstands anzündeten – eine bittere Tradition der Selbstverbrennung. Was 1968 ein Akt gegen die sowjetische Niederschlagung des Prager Frühlings war, ist 2017 ein Weckruf gegenüber der rechtspopulistischen Regierung Polens. Zum Gesang des Münchner Knabenchors spielen Merki und Gro Swantje Kohlhof eine Tragödie durch, die im Vorlesen eines Briefes kulminiert, den Piotr S. hinterlassen hat und in dem er Forderungen an eine erstarrte Gesellschaft stellt – der berührendste Moment des Abends. Einige Linien lassen sich in der munter zerfasernden Performance-Collage ziehen, eine der Gewalt etwa, von Polen nach Mexiko, wo die Regierung am 2. Oktober 1968 eine Massendemonstration in Mexiko-Stadt zu einem blutigen Ende führte. Dass Hunderte protestierende Studenten ihr Leben ließen, führt Alberto Villarreal recht verspielt vor Augen. Da werden die Staukissen zu einem riesigen Panzer geformt, der einige Performer niederschießt. Die lassen sich auf andere Kissen fallen und ziehen den Stöpsel.Das Schweigen der JelinekIst die Luft denn schon raus? Dass die Emanzipation der Frauen seit 1968 ein paar weitere Schritte voran gemacht hat, die Gleichberechtigung aber längst noch nicht erreicht ist, damit beschäftigt sich das Frauen-Kollektiv Henrike Iglesias kurz vor Schluss. Vom Bühnenhimmel schweben sie als knallbuntes Feen-Quartett herab, irre Perücken, blinkende Brüste, und bringen sich und das Publikum auf den Boden der Tatsachen. Allein im Theater führen immer noch Männer hauptsächlich die Regie, und weil es noch viel zu tun gibt, ringen sie Einzelnen aus dem Publikum Versprechen ab. Nicht wegschauen, wenn jemand belästigt wird. Und das Frausein nicht als Entschuldigung benutzen.Wie Widerstand auch ohne Worte aussehen kann, das zeigt Elfriede Jelinek in einer Videozuspielung, die auf eine Lesung von 1968 anspielt, bei der sie das Lesen im aufgeschlagenen Buch schlicht verweigerte. Jelinek liest wieder, der Ton ist abgedreht. Vielleicht braucht es weniger der Worte als der Musik. Das französische Collectif Catastrophe beendet den Abend mit einer Pop-Einlage, in der es vom Ende der Utopien singt. Vor dem Abend durfte man seine Ängste auf Zetteln aufschreiben, einer der Performer aß sie auf. Im Gegensatz zum Heute der Selbstoptimierer waren die 68er mutig bereit zum Widerstand. Gemeinsam, sozusagen als Band. Das Jahr 1968 ist hoffentlich noch nicht ganz verdaut.Placeholder infobox-1
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