Es war ein großartiger Auftakt: Sohrab Shahid Saless kam aus dem Iran und hatte zwei Filme im Gepäck. Auf den Internationalen Filmfestspielen in Berlin 1974 wurden gleich beide Filme gezeigt: Ein einfaches Ereignis lief im Forum, Stilleben sogar im Wettbewerb und wurde prompt mit dem Silbernen Bären ausgezeichnet. Ein Triumph, der den hierzulande bis dahin völlig unbekannten Filmregisseur in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückte. Saless wollte nicht zurück in den Iran, wo damals noch der Schah herrschte; er blieb in Deutschland.
Ein besserer Start für eine großartige Karriere war kaum denkbar. Saless war der Diktatur entkommen, er lebte jetzt in einem freien Land. Eigentlich hätten ihm alle Türen offenstehen müssen, doch als Ausländer bekam er nur eine beschränkte Aufenthaltsgenehmigung. Dies war nicht nur demütigend, es hinderte ihn auch an der Entfaltung seiner künstlerischen Produktivität. Seine Arbeitserlaubnis galt ausdrücklich nur für die Tätigkeit als Filmregisseur, das heißt, er musste sich für seine Projekte Produzenten suchen, er selbst konnte nicht einmal Förderanträge stellen.
Der Blick eines Fremden
Er drehte als ersten Film in Deutschland In der Fremde (1974), ein „Gastarbeiterdrama“, wie man das damals nannte, heute ein immer noch sehenswertes Dokument vom Leben der Migranten in jenen Jahren in Berlin. Auch In der Fremde kam im Wettbewerb der Berlinale zur Uraufführung, wieder bekam Saless dafür einen Preis. Das Erstaunliche war: Mit In der Fremde war für ihn das Thema abgehakt, er drehte danach Filme über die bundesrepublikanische Realität (Reifezeit, 1975), einen dreistündigen Film über einen deutschen Dichter aus dem 18. Jahrhundert (Grabbes letzter Sommer, 1980), den Dokumentarfilm Die langen Ferien der Lotte Eisner (1978), über eine hochverehrte Filmkritikerin aus der Zeit Fritz Langs und Murnaus, die – inzwischen hochbetagt – die Filme von Saless schätzte.
Obwohl er doch erst seit ein paar Jahren in Deutschland lebte, erkundete er wie kaum ein anderer Filmemacher des Landes die deutsche Seele, ihre Sehnsüchte und mehr noch ihre Beklemmungen. Saless hatte eine künstlerische Handschrift, die noch in jeder Szene, ja in jeder Einstellung spürbar ist. Er ließ sich nicht reinreden in seine Arbeit, schon gar nicht von irgendwelchen Auftraggebern, seien es Produzenten oder Redakteure. Konnte er sich nicht durchsetzen, zog er seinen Namen zurück. Er war nicht käuflich.
Radikal und kompromisslos war Saless in seiner Kunst, im persönlichen Umgang dagegen zugänglich und fast sanft. Ein kleiner, fast schmächtiger Mann, sehr höflich, mit ausgezeichneten Manieren. Immer auf Gastfreundschaft bedacht. Er sprach perfekt Deutsch, aber wenn er Briefe schrieb, merkte man, dass ihm die üblichen Floskeln nicht geläufig waren. Deshalb gelangen ihm immer wieder ungewöhnliche, zugleich sehr treffende Formulierungen, die blitzartig einen Sachverhalt erhellten, den man bisher nicht gesehen hatte.
An Preisen und Anerkennung fehlte es nicht, trotzdem gab man ihm nicht die großen Etats. Wo andere wegen ungenügender Budgets gepasst hätten, schuf Saless selbst unter widrigen Umständen große Filmkunst. Er brauchte allerdings auch keine teuren Stars, keine kostspieligen Special Effects oder Studiobauten, er stand, nicht nur im finanziellen Sinne, für ein „armes Kino“: Er drehte, auch fürs Fernsehen, nicht in Farbe, sondern schwarzweiß und stets im Kinoformat 35 mm.
Über den Drehbuchautor Manfred Grunert kam er in den Verlag der Autoren, wo ich als Agent für Drehbuchverträge arbeitete. Jedes Projekt musste mühsam erkämpft werden. Das galt ganz besonders für Utopia, eine radikale Studie über Abhängigkeitsverhältnisse. Schauplatz ist der Club Arena, ein Bordell in Berlin. Obwohl jede der fünf Frauen eigentlich die Möglichkeit hätte, sich vom sadistischen und gewalttätigen Zuhälter zu lösen, gelingt es ihnen nicht. Selbst der gemeinsam begangene Mord an ihm setzt nur für kurze Zeit die Machtverhältnisse außer Kraft, dann heißt es, als es an der Tür klingelt, wieder „An die Arbeit“.
Dreieinhalb Stunden „Utopia“
Spielfilme für das Kino werden in Deutschland mitfinanziert vom Fernsehen. Die Suche nach einer Fernsehanstalt, die sich an Utopia beteiligt, erwies sich als schwierig. Saless zeigte mir ein ganzes Bündel mit Absagen. Hellmut Haffner vom BR hatte ihm geschrieben, er würde doch sicher verstehen, „dass sich das Thema in seiner Radikalität für den Bildschirm nicht eignet. Deshalb können wir eine Coproduktion leider nicht in Erwägung ziehen.“ In allen Briefen stand dasselbe: Nichts fürs breite Fernsehpublikum, nicht sendbar für den Gebührenzahler.
Nach vier Jahren, im Januar 1982, war es endlich soweit. Er hatte Partner im ZDF gefunden. Damit fand sich dann auch ein Produzent, die Firma multimedia; der Film konnte gedreht werden. Saless: „Ich bin so lange gegangen und zwar hartnäckig genug, bis der Film gemacht wurde, dass er so lang werden musste wie meine Geduld.“ Ohne das Budget, das für einen Spielfilm mit der Länge von 90 Minuten berechnet war, zu überschreiten, wurde Utopia dreieinhalb Stunden lang.
Der Produzent freute sich darüber nicht, ganz im Gegenteil. Für ihn (und die Kinobetreiber) war ein Dreistunden-Film eine Katastrophe: Konnte man normalerwiese zwei Vorstellungen am Abend spielen, war dies so unmöglich. Bei einem Besuch Ende März 1982 in Hamburg erfuhr ich, dass die multimedia daran dachte, Utopia um eine halbe Stunde zu kürzen. Saless, dem ich dies berichtete, schaltete sofort seinen Rechtsanwalt ein, der an multimedia schrieb: Bei jeglicher Kürzung, selbst wenn es nur eine halbe Sekunde sein sollte, würde er auf Schadensersatz klagen und per einstweiliger Verfügung die Vorführung des Films verbieten.
Das waren keine guten Vorzeichen für den Kinostart. Beim Filmverleih Basis hatte es vor der Annahme kontroverse Diskussionen gegeben; auch Cine-International, für den Auslandsvertrieb zuständig, engagierte sich nicht so, wie es Saless sich wünschte. In dieser Situation kam die Nachricht, dass Utopia von der Berlinale angenommen wurde, und zwar für den Wettbewerb. Die Uraufführung auf dem Festival musste vorbereitet werden, und vom Produzenten und dem Verleih war keine Hilfe zu erwarten. So war ich plötzlich für die Pressearbeit zuständig und machte ein Interview mit dem Hauptdarsteller Manfred Zapatka und mit Saless. Meine erste Frage an Zapatka war, welche Eindrücke er nach der Lektüre des Drehbuchs hatte. „Das Drehbuch wurde an meine Münchner Adresse geschickt, ich spielte zu der Zeit gerade in Bochum“, erzählte er. „Nachts um drei Uhr hat mich meine Frau angerufen, völlig verstört: Es sei ein Drehbuch gekommen und: ‚Das machst du nicht!‘“. Zapatka konnte sich nicht gleich entscheiden, er wollte zunächst Saless persönlich kennenlernen. „Ich kann nicht einfach eine Rolle annehmen, bei so einem Drehbuch, ohne zu wissen, wer das ist.“
Zapatka gestand, dass er vor den Dreharbeiten Angst hatte, schließlich hatte er in der Rolle des Zuhälters die Frauen des Clubs zu unterdrücken und zu quälen, da bauen sich zwangsläufig Aggressionen auf. Dann gab er einen wichtigen Hinweis, wie der Film Utopia zu verstehen ist: „Die Frage, die im Kopf des Zuschauers bleiben wird: Warum gehen die Frauen nicht? Es ist ein politischer Film, ein Modell; der Zuschauer wird provoziert, nachzudenken über ein System, das er selbst gewählt hat.“
Die Premiere von Utopia bei den Internationalen Filmfestspielen am 20. Februar 1983 wurde zu einem Triumph. Es gab Leute, die während der Vorführung den Kinosaal verließen, nicht still und leise, sondern türenschlagend. Die kühl inszenierten, mit suggestiver Langsamkeit vorgeführten Rituale von Abhängigkeit und Unterwerfung erschienen ihnen als Zumutung. Der Film legt die Gewaltverhältnisse, die unter den Menschen herrschen, offen, frei von moralisierendem Kommentar. Die Kamera beobachtet die Menschen: Saless dramatisiert nichts, er psychologisiert nicht, er schaut nur unerbittlich genau hin. Die deutsche Filmkritik war zwiespältig, die internationale Presse durchweg positiv.
Aus dem Iran, wo seine Freiheit beschnitten wurde, war er nach Deutschland gekommen. Es gibt in diesem Land keine staatliche Filmindustrie und keine Zensur, aber es gab auch keine Möglichkeit mehr für Saless, hier zu leben und zu arbeiten. Er war am Boden der Freiheit angekommen, davon erhebt man sich nicht mehr. 1994 erhielt er noch den Großen Preis der Autorenstiftung für sein „Gesamtwerk“, als würde diesem Werk nichts mehr hinzugefügt werden. Tatsächlich konnte Saless, der danach Deutschland verließ, auch in Amerika keinen Film mehr realisieren.
In seinem Nachruf, gehalten in der Berliner Akademie der Künste, sagte Hans Helmut Prinzler, der damalige Direktor der Kinemathek: „Mit einer Genauigkeit, die man besessen nennen kann, entwarf Saless Porträts von leidenden Menschen. Einsamkeit, Gewalt, Unterdrückung, Liebessehnsucht sind in seinen Filmen die psychologischen Grundlagen. Für die Darstellung sozialer Realität benutzte er nicht das dokumentarische Abbild, sondern die kunstvolle Stilisierung: durch die Inszenierung des Unscheinbaren, die Gestaltung des Alltäglichen.“
Info
Utopia Sohrab Shahid Saless Deutschland 1983, 198 Min.; jüngst beim Label Filmjuwelen als DVD/Blu-ray erschienen
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