Das Emblem des Sonntags

Wochenenden in NVA-Kasernen Woran erkannte man als Wehrpflichtiger, dass Sonntag war? Daran, dass auf dem Frühstückstisch zwei vertrocknete Stücken Blechkuchen lagen. Die zwei ...

Woran erkannte man als Wehrpflichtiger, dass Sonntag war? Daran, dass auf dem Frühstückstisch zwei vertrocknete Stücken Blechkuchen lagen. Die zwei Stück Kuchen auf dem weißen Teller waren sozusagen das Emblem des Sonntags. Nur Weniges war in der NVA so sicher, beständig und garantiert wie diese zwei Stück Kuchen.

Ansonsten glich der Sonntagmorgen allen anderen Morgen: Man marschierte in Kolonne zum Speisesaal, saß dort zu Hunderten auf Schemeln und an den langen Tischen, und blickte in den Muckefuck. Jenseits der zwei Stück Kuchen waren die Sonntage recht verschieden, abhängig von den Waffengattungen, der Räson in den Truppenteilen, dem Diensthalbjahr und der speziellen "Verwendungen" des Soldaten oder "Unteroffiziers auf Zeit". Vor allem in Ausbildungseinrichtungen, wo das Frühsport-Regime tatsächlich noch durchgezogen wurde, erkannte man den Sonntag schon vor dem Frühstück - nämlich am Fehlen der unbeliebten Leibesübungen. In anderen Dienstellen gehörten zu den zwei Stück Kuchen sogar noch Kakao - fast französische Verhältnisse! Auch zum Mittag gab es "was Gutes", meistens Schnitzel mit Gemüse. Das Abendbrot - nun, das sollte gewissermaßen wieder auf den Beginn der Dienstwoche am nächsten Morgen vorbereiten.

Der Wehrpflichtige der NVA verbrachte seine Sonntage in der Kaserne. Einmal abgesehen von der in allen Armeen üblichen Besetzung der Überwachungs-, Alarm und Bereitschafts-Dienste hatten die meisten Soldaten am Sonntag nichts zu tun. Die NVA-Praxis, alle Soldaten das Wochenende über in den Kasernen zu belassen, produzierte wiederum Wochenenddienste: Ein Teil der Soldaten musste auch am Wochenende die anderen Soldaten bewachen und informelle Sonntagsspaziergänge verhindern, ein anderer musste die genannten Kuchen- und Schnitzel-Berge verteilen und ein Teil der Offiziere schließlich musste wiederum die Bewacher und Verteiler beaufsichtigen.

Eine gewisse sonntagsbedingte Unruhe zeigte sich in den "Med.-Punkten" schon in den ersten Stunden des Tages. Hier waren viele Wunden und Fußgelenke zu versorgen. Denn in der Nacht vom Samstag zum Sonntag wurde gekämpft - gegen die Langeweile, den Frust der Kasernierung, die Entmündigung, den Diebstahl an Jugend- und Familienleben. Hauptkampflinie waren die Kneipen der Umgebung, hier soff man sich der Entspannung und Amnesie entgegen. Ab Sonntag früh Null-Ein-Uhr wurden jene in den Med.-Punkt gebracht, die dabei am weitesten gekommen waren, Sonntagmittag diejenigen, die sich gleich in der Dienststelle zugekippt hatten. Letzteres war allerdings streng verboten, weswegen man erst nach entsprechender Ausnüchterung im Med.-Punkt schildern konnte, wie man gerade vor die Türkante gestolpert oder beim Gang zum Mittagessen "umgeknickt" war.

Später begann sich die DDR-Führung von den sowjetischen Vorgaben zum NVA-Urlaubs-Regime zu lösen und das Modell des "Kurzurlaubs" (Samstagmittag bis Montags früh zum Dienstbeginn) oder des "verlängerten Kurzurlaubs" (Freitag Mittag bis Montags früh zum Dienstbeginn) wurde zumindest als Möglichkeit installiert. Freilich waren diese Wochenendurlaube übers Jahr limitiert, vom Dienstplan und vom Gutdünken der Vorgesetzten abhängig. Sie boten jedoch eine Möglichkeit, den Sonntag zu retten, wenngleich zu befürchten stand, dass von den Dauerkasernierten der Sonntag als solcher nicht sofort zu erkennen war, - weil sein "Eröffnungszeichen" auf dem heimischen Frühstückstisch fehlte.

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