Das bevorstehende Ende nicht nur eines Jahrhunderts, sondern gar eines Jahrtausends lässt geschichtsphilosophische Megalomanien millennarischen Ausmaßes wuchern. Die dabei immer wiederkehrende Frage mehr oder minder apokalyptischen Ausmaßes gilt dem verborgenen Geheimnis desjenigen Zeichens der Zeit, die mit dieser überdeterminierten Wende zur Neige geht. Gibt es einen gemeinsamen Nenner oder ein Symbol, das diese 1.000 Jahre im Innersten zusammenhält und in mit seinem Untergang die erneute Rede von einem Fin de siècle gar mit millennarischem Beigeschmack rechtfertigt?
Was das epochale Selbstverständnis des Wissens, die repräsentativen Kulturen - sagen wir bescheiden: des Abendlandes und seiner neuweltlichen Extensionen - betrifft, so gibt es eine Antwort: das Buch. Das zu Ende gehende Jahrtausend stand im Zeichen des Buches als exklusivem Offenbarungsmedium der Wahrheit; und das Jahrhundert, dem wir noch für ein paar Tage angehören, ist das Jahrhundert, das mit diesem Medium der Schrift abgerechnet haben wird. Aber wieso Medium, wo doch das Buch immer als Bastion gegen die wuchernde Medienkultur angeführt wird, und ist es nicht die Schrift selbst, die im Rauschen der audiovisuellen Kanäle zugrunde geht?
Zunächst mag irritieren, dass man dem Buch nur eine solche millennarische Karriere zugrundelegt. Bücher gibt es immerhin nicht erst seit 100 Jahren, sondern seit den Anfängen der sogenannten Schriftkultur in der morgenländischen Wiege des Abendlandes. Und das Buch als Medium technischer Reproduktion von Schrift lässt an ein Jubiläum weitaus geringerer Laufzeit denken, wenn man so will eher an die 600 Jahre, die der Mainzer Johann Gutenberg nach gewissen Quellen im kommenden Jahr als Erfinder des Buchdrucks feiern soll. Sicherlich, das Buch als Massenmedium nimmt seinen Anfang erst mit dieser epochalen Erfindung in der Mitte des ausklingenden Jahrtausends. Seine Inthronisierung aber als Buch, das heißt als verbindliches und normiertes Aufschreibesystem diesseits aller Bücher, die schon seit langem die willkürlichen Spuren all der Kopisten- und Illustratorenhände festhalten, erfolgte schon am Anfang unseres Jahrtausends. Das 1128 entstandene Didaskalion des scholastischen Mönches Hugo de St. Victor stellt zum ersten Mal die Forderung nach einer Einrichtung der Seite im modernen Sinne auf, das heißt nach verbindlichen Normen für die Buchabschriften, die durch für uns heute selbstverständliche Ordnungskriterien wie Paginierung, Kapitel oder Register eine einheitliche Textreferenz gewährleisten.
Mit dieser Erfindung des Layouts gewinnt das Buch erst seine kulturelle Autorität. Das, was man als Ersetzung der auditiven Welt des Mittelalters durch die visuelle Ordnung des Buchstabens erst mit der Erfindung des Buchdrucks verbindet, entstand schon früher und verweist auf die scholastische Wende des zweiten Jahrtausends abendländischer Zeitrechnung. Als Marshall McLuhan aber 1962 mit seinem Buch The Gutenberg Galaxy die Vorgeschichte der Neuen Medien zu schreiben begann, wollte er dem Buch aber keineswegs einen Todesstoß versetzen. Er stieß nur ein Königsmedium vom Thron, indem er es rücksichtslos als das entlarvte, was es war: nämlich ein Medium. Zu dieser Einsicht bedurfte es aber des Siegeszuges der technischen Medien, die schon lange vor den kybernetischen Schaltungen von Datenströmen alternative Informationssysteme unabhängig von Sprache und Schrift möglich machten. Vor allem die audiovisuellen Medien Photographie, Telephon, Grammophon, Film et cetera traten im 19. Jahrhundert in Konkurrenz zu dem, was heute nur noch im beschränkten Sinne als Print-Medien bezeichnet wird.
Was diese technischen Verfahren der Speicherung und Übertragung von Information gegen das Buch als "klassischen" Inbegriff des kulturellen Gedächtnisses und Vermächtnisses unter der Bezeichnung Medium ins Feld führen, ist eher eine Art von "Clash of Civilisations". Das vor allem aus Pädagogenmündern seit geraumer Zeit ertönende Geschrei vom "Ende des Buches" verdankt seine apokalyptische Kraft weniger der bedrohten Leistung des Mediums selbst, als vielmehr einer Art von Kampf um die damit verbundene abendländische Kultur, die mit ihrem Medium schon lange zu veralten begonnen hat. In diesem Sinne hat die Depotenzierung der buchstäblichen Ordnung des Wissens durch Cyber-Hyper-Texte auch etwas mit der globalisierenden Dezentrierung der abendländischen Perspektive zu tun, die sich im zu Ende gehende Jahrtausend etabliert hat.
Womit uns nämlich der Kultwert des Buches konfrontiert, ist das entsprechende Machtdispositiv eines Eurozentrismus, das auf dem dreifachen Erbe von Judentum, Römisches Reich und Christentum beruht. Was immer sich in den vergangenen tausend Jahren an Kämpfen um die kulturelle Vorherrschaft von Katholizismus, Protestantismus, Kolonialismus, Imperialismus oder selbst Kapitalismus abgespielt hat, stand im Zeichen der legitimierenden Ordnung des Buches als privilegierte Herrschaftsform des abendländischen Geistes über die Schrift. Der abendländische Logozentrismus, dessen Wurzeln in der griechischen Metaphysik eigentlich von einer schriftfeindlichen Macht der Stimme zeugt, verschmilzt jüdische, römische und christliche Traditionen zur Idee des Buches, die sich in dem für das zweite Millennium typischen Netzwerk der Bibliothek durch stetes Reproduzieren und Kommentieren der buchstäblichen Ordnung restituiert. Die metaphorische Mächtigkeit der beschworenen Namen eines himmlischen Jerusalems und eines ewigen Roms sprechen buchstäblich Bände: Sie sind Titel für das sich immer selbst lesende Gedächtnis des Abendlandes, das überhaupt von der Lesbarkeit der Welt als Buch ausging.
In der spätzeitlichen Sprache unserer informationstechnologischen Übergangsepoche zum dritten Jahrtausend haben wir es demnach im buchstäblichen wie übertragenen Sinne mit einem ROM-Speicher (read only memory) zu tun, der strikt von der Trennung zwischen archivierendem Aufschreibesystem und interpretierender Leserinstanz ausgeht. Genau diese Trennung zwischen den bloß aufbewahrenden und übertragenden Materialitäten und den universal diskurrierenden und konkurrierenden Agenten der Kommunikation gerät aber mit den elektronischen Medien ins Wanken. Die RAM-Kapazität (random access memory) der digitalen Informationssysteme unseres fin de siècle verdankt sich gerade der frei schaltenden und waltenden "Komputabilität" von bits und bytes jenseits von alphanumerischen und bibliothekarischen Gesichtspunkten: Als wenn - wie in Goethes Zauberlehrling - die Zeichen zum Eigenleben wiedererwachen, das ihnen tausend Jahre Buchherrschaft verweigert haben, und untereinander sich zu neuen flüchtigen Konfigurationen versammeln.
Diesen immateriellen Datenströmen der elektronischen Medien steht das Buch in seiner altehrwürdigen Form so gewaltig gegenüber, wie es der Künstler Anselm Kiefer in seiner Installation "Zweistromland" dargestellt hat: als eine erdrückende Wand aus Bleifolianten, in denen die Spuren menschlichen Wissens erstarrt sind. Die griffige Formel vom Kampf zwischen Buch-Kultur und Computer-Kult ist aber nur Deckfigur eines untergründig schon immer schwärenden Widerstreits. Die heutige Ersetzung der (Buch)Seite mit ihren alphabetischen Zeichen durch den Bildschirm, den Monitor der elektronischen Datenverarbeitungssysteme, zeugt auch vom endgültigen Sieg eines lange vom Buch domestizierten Mediums: nämlich des Bildes. Der nicht nur von Kunstwissenschaftlern neuerdings konstatierte iconicturn, der im populärsten (und immer noch weiter als der Computer verbreiteten) Medium, dem Fernseher, Typographie durch Television ersetzt, hat auch in diesem Jahrhundert das Buch als Print-Medium im eigentlichen Sinne verschwinden lassen. Der - bis auf Liebhabereditionen - übliche Photosatz definiert die Type als Bild und lichtet die Schriftmatritze durch Kathodenstrahlröhren ab, bevor in allerneuesten Verfahren sich das Buchstabengebilde gleich ganz in Digitalcodes auflöst, die auf einem Magnetband gespeichert und unendlich reproduziert werden können.
Vergessen wir aber nicht, dass all die schönen technologischen Bilder mit dem Buch eine Gemeinsamkeit teilen, dass sie nämlich vom Zeilentrafo des Monitors ebenso geschrieben werden wie die ihnen zugrundeliegenden Datenmengen vom Laserkopf auf dem magnetischen Speichermedium. Zwar ist es eine andere Schrift, die in elektronischen Medien aufgezeichnet und übertragen wird, nämlich eine weder an Buchstaben noch an Zeilen gebundene, deren überbordender und immaterieller Charakter auch nicht die Grenzen der Seite noch des Buches, ja nicht einmal die zwischen Text-, Bild- oder Klangfiguration kennt. Aber es ist die Spur eines Aufschreibesystems, die auch in den Hypertext-Echtzeit-Übertragungen zwischen das sogenannte Reale und die informelle Schnittstelle tritt; es bleibt ein Zeichencode, der sich in den modernsten Computerprozessoren schreibt und die Datenmengen "berechenbar" macht, auch wenn die Schrift der digitalen Taktfrequenzen unsichtbar geworden ist.
Umgekehrt bedeutet die kybernetische Algorithmisierung der Schrift für das neue, als digitale Bild-Daten oder Pixel-Oberfläche gescannte Buch, dass seine Inhalte jenseits von Sinn und Sensibilität für alle Formen von Disposition, Modifikation beziehungsweise Manipulation offen sind: In den Texten wird jetzt nicht mehr lesend geblättert, sie werden gerollt, gescrollt, kopiert, ausgeschnitten, umformatiert, umgeschrieben. Die Möglichkeiten, die das kurz vor dem kommerziellen Durchbruch stehende E-Book verspricht, machen deutlich, was sich mit dem Schreiben in Laptops, den note- und powerbooks, angebahnt hat: Die hardware "Buch" ist soft geworden, die hard-cover-Materialitäten des Wissens haben sich am Ende des II. Jahrtausends verflüssigt zu Datenströmen und sie verarbeitende Programmsprachen, die selber ständig umgeschrieben werden. Dieses Umschreiben, weniger im klassischen Sinne von Transskription als vielmehr im neuen von Transfiguration, bestimmt die Mutation des Buches zum elektronischen Papier (e-paper) als - wie McLuhan vor 30 Jahren schrieb - Ende der literarischen Ordnung des menschlichen Bewusstseins: "Das Zeitalter, in dem das gedruckte Buch die menschliche Wahrnehmung formte, ist vorbei - wir sind nach-literarisch und tatsächlich den Vor-Literarischen näher als der Kultur- und Weltanschauung des Buchdrucks."
Was McLuhan mit dieser Wiederkehr des Vor-Literarischen meinte, wird durch die Verschmelzung von Rechner-Medium Computer und Übertragungs-Medium im Internet deutlich. Im on-line-chatting wird der traditionelle Gegensatz von schwatzhaftem Rauschen mündlicher Kommunikation und diskursiver Ordnung des geschriebenen Wortes obsolet. Auch wenn bis hin zu Bill Gates die Vorliebe zum "Ausgedruckten" ungeschmälert ist, so bleibt das fixierende weiße Papier dennoch nur ein Interims-Interface. Als solches hat das gedruckte Buch gegenüber den auf Flexibilität der Datenverarbeitung eingestellten elektronischen Informationssystemen ausgedient, die nicht nur intertextuelle und internationale Kommunizierbarkeit implizieren, sondern mit ihren beschleunigten Halbzeitwerten auch die bibliomanen Restriktionen von Titeln, Thesen und Tantiemen unterlaufen. Kurzum: Für das Buch der Zukunft ist die Frage nach dem Autor genauso irrelevant wie nach seiner Erscheinungsform.
Ironisch gesprochen, wird also das Buch im 21. Jahrhunderts nicht verschwinden, sondern die in unserem Jahrhundert begonnene Leidensphase der "körperlichen Erniedrigung" zugunsten einer immateriellen Gestaltung überwinden. "Erniedrigung" meint dabei den Prozess, der mit den Produktionen der Rotationspresse beginnt und in der schwarzen Flut der Photokopien seinen Höhepunkt findet, gespiegelt in den schlechten, oft verblassenden Nachdrucken des Photosatzes. Das Buch überlebt sein Ende in einer Verfallsgeschichte seiner Druckformen, die immer kontingenter werden, wobei sich umgekehrt proportional auch ein Verfall der Inhalte gegenüber der technischen Optimierung neuer Druckqualitäten beobachten lässt, der noch die banalste Seminararbeit oder Heimprosa im schicksten Laser-Layout daherkommen lässt.
Genau genommen, lässt sich das Verschwinden des Buches nicht an seinem Schicksal als Print-Medium ablesen, sondern an seiner Auflösung als gebundenes Werk (das heute geläufigste Bindeverfahren ist die Blockverleimung samt eingeplanter Sollbruchstellen). Drei Phasen des Schwindels des Buchkörpers kann man beobachten, die von einer Reproduktion, Simulation und Virtualisierung der Schrift im ausgehenden 20. Jahrhundert zeugen: das post-script-Stadium, das beherrscht ist von der Xero-Graphie, der endlosen Kopie real existierender Bilder, die das Volumen des Textkorpus durch beliebige Ausschnitte fragmentarisieren, die Einheit des Buches als geschlossenes Werk anschneiden, einer fortschreitenden Verblassung immer schlechterer Kopien von Kopien unterwerfen, neuen Konstellationen (in der angeblich didaktischen Form von sogenannten "Readern") unterstellen und durch die supplementären Präsentationen der Textcollagen selbst vor einer Zerstörung des Textbildes nicht zurückschrecken (zum Beispiel durch das Lochen der Kopien in Akten etc.) das pre-script-Stadium der Digitalisierung beziehungsweise Disposition von Buchmanuskripten als Disketten-Versionen, deren computerlesbare Datenspur die Materialität des gedruckten und gebundenen Buches gleich ganz zum Verschwinden gebracht hat und den Text für den User beliebig ausdruckbar werden lässt, womit er allerdings auch allen Spielraum für individuelle Gestalt einräumt (dieses Verfahren hat sich in Form des Print-on-Demand bereits etabliert); das para-script-Stadium von Büchern, die vor aller eventuellen Publikation im Internet als Hypertext verfügbar sind und somit interaktiv veränderbar werden, womit sich schließlich auch die textuelle Werkeinheit auflöst. Nicht nur die Grenzen des Buchdeckels werden gesprengt, mit den Links und Hyperlinks der hybriden Inter-Net-Textualität schwindet auch die Kontrolle, die noch im Namen eines Autors über die Anordnung des Geschriebenen ausgeübt wurde.
Was ist das Buch nach dem Buch also? Ein Datenträger unter anderen mit entsprechender Rechnerkapazität, der zugleich an das Netzwerk der globalen Schriftspeicher angeschlossen ist. Niemand behauptet dabei übrigens, dass es keine Bücher mehr im klassischen Sinne geben wird. Als Kultobjekt werden vielmehr erlesene Papiere und Einbände weiterhin Konjunktur haben, aber sie werden nur Sammlerleidenschaften befriedigen. Das Buch des 21. Jahrhunderts wird dagegen ein Dispositiv sein, dessen Oberfläche virtuell ist, ein Fenster zu den Zeitspielräumen textueller Verknüpfungen. Und in Fenstern kann man nicht blättern, man kann sie nur anklicken!
Michael Wetzel, Literatur- und Medienwissenschaftler, Dozent an der Universität Essen und Kassel, zuletzt erschien von ihm das Buch Mignon - Die Kindsbraut als Phantasma der Goethezeit.
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