Bei Feuer Hast!

Kehrseite Sie sagen: Gib zu, dass du ein Jude bist. Sie sagen: Komm, sag, dass du ein Jude bist. Sie sagen: Du musst es nur sagen. ...

Sie sagen: Gib zu, dass du ein Jude bist. Sie sagen: Komm, sag, dass du ein Jude bist. Sie sagen: Du musst es nur sagen.

Er sagt: Ich bin ein Jude. Sie sagen: Du lügst.

Sie stehen, während die Sonne schräg durch die schmalen Fenster gleitet, im Halbkreis vor ihm. Wenn sie sich bewegen, wirbeln die Füße Staub und Kornhülsen auf, die im Licht, das sich im stumpfen Fenster bricht, zu tanzen scheinen. Sie sagen: Bist du ein Jude?

Er sagt: Ja. Und danach, die Lider gesenkt und den Blick auf eine schartige Fuge vor sich im Betonboden geheftet, sagt er: Nein, ich bin kein Jude.

Warm streicht ein Streifen Sonne - der Vogelkot am Fensterglas blinkt - über das Haar, dann die Schläfe, die Wange des auf einem Stuhl ohne Sitzfläche sitzenden Jungen. Er flüstert: Ja, ich bin ... ich bin ein Jude, ja.

Sie lachen.

Aber sie lachen nicht laut.

Sie lachen, da sie zu viert sind (vielleicht) und den Jungen, der ein Jude sein soll oder keiner, im Halbkreis umstehen. Und sie halten, drei nur von ihnen, in ihren Händen, an deren Fingern sie Ringe tragen aus nicht rostendem Stahl, die Sonne fängt sich in dem nüchtern wirkenden Schmuck, sie halten, verborgen in der Höhlung ihrer Hände, Zigaretten. Bei Feuer Hast! steht auf einem Schild aus stellenweise brüchigem Emaille, das ein Nagel, notdürftig noch, neben der Tür an der Wand der Stallung hält - im Winter wird das Schild wohl von der Wand fallen und der Rost wird mit der Zeit über die Schrift, Bei Feuer Hast!, hinwegwandern - oft denkt der Junge an Dinge, die Dinge sind ihm ein Trost.

Jetzt tritt einer der vier jungen Männer, die den Jungen im Halbkreis umstehen, vor und hält die Glut der Zigarette - zögernd, beinahe behutsam - an die Haut am Hals des Jungen, der, die Hände hängen frei neben dem Stuhl, dem Rahmen eines Stuhles nur herunter und baumeln und schlenkern, nicht heftig, bewegen sich kaum, als dem Jungen die Glut die Haut am Hals versengt und es im Stall, der nicht benutzt wird, seit Jahren, nach verbranntem Fleisch riecht - bist du ein Jude, fragen sie und drücken seinen Kopf am Kinn nach oben.

Und der Junge erwidert: Nein.

Und er muss sich beherrschen, um nicht zu weinen, und denkt, ich weiß nicht, woher mich die Erinnerung an einen Vogel überkommt, der, wenige Wochen ist es her, an die Scheibe der Schulturnhalle geflogen und danach gestorben ist.

Ich habe ihn begraben, denkt der Junge. Gemeinsam mit meinem Bruder.

Es war der Tag, denkt der Junge, als ich mir die Ränder meiner Haare habe blond färben lassen.

Daran denkt der Junge, während er spürt, wie ihm ein zweiter junger Mann (jener vier, die ihn umstehen) eine weitere Zigarette, deren Glut auf die Brust drückt, dort, wo das T-Shirt die Haut nicht bedeckt. Der Junge riecht den Geruch verbrannten Horns, den Geruch seiner Haare, die ihm an wenigen Stellen auf der Brust zu wachsen beginnen, die blond sind, so dass sie niemandem auffallen. Nein, schreit der Junge, nein, ich bin kein Jude. Nein, schreit der Junge, nein. Und danach schluchzt er, ohne zu weinen, während ihm einer der, die ihn umstehen, einen Nietengürtel ins Gesicht schlägt, so dass die Lippen des Jungen aufplatzen und ihm Blut über Mund, Kinn, Hals und das versengte Haar in den wie immer schmutzigen Kragen des T-Shirts läuft.

Bei Feuer Hast.

Bist du ein Punk, brüllt der junge Mann, der den Nietengürtel in den unbenutzten Steintrog wirft. Bist du ein Punk und färbst dir deswegen deine Haare, brüllt er und hält ein Feuerzeug an die blonden Haarspitzen des Jungen. Wehr dich, flüstert der junge Mann, wehr dich, wenn du ein Mann bist. Wehr dich - bist du ein Jude?

Peng, hat der Bruder immer gesagt, tot. Der, das meinten die Leute des Ortes, gar nicht sein richtiger Bruder sei. Aber der Junge mag den Bruder, der, das Gesicht verkrampft zu einem Lächeln, die Kopfsteinpflasterdorfstraße entlang fährt, ein rasender Reiter, und: Peng! ruft, peng!, bist tot. Und der Junge lässt sich dann von einem Zaun rückwärts in eine Hecke fallen, die Hände eng an die Brust gepresst, dort wo das Herz ist oder die Lunge, peng!, peng!, stundenlang kann der Bruder, nie ist das Lächeln ein wirkliches Lächeln, auf den bloßen Fahrradfelgen über das Kopfsteinpflaster der wenig befahrenen Straße des Ortes reiten, bis vor zu den Stallungen manchmal, bei Feuer Hast, oder - peng, bist tot - am Waldrand entlang bis zum See.

Die vier, die jetzt im Pulk vor dem Jungen und nicht mehr im Halbkreis um ihn herum stehen, hänselten den Bruder, und schubsten ihn manchmal, und nahmen ihm das Fahrrad, das nur noch auf Felgen fuhr, weg.

Aber sie gaben es ihm irgendwann wieder zurück, denkt der Junge. So dass der Bruder, Matt Dillon - Rauchende Colts, denkt der Junge, wieder an mir vorbeireiten konnte, die Zähne gebleckt und das Holzstück gereckt, peng!, und ich falle rückwärts in eine Hecke, deren Blätter und Äste dicht sind und mich fangen wie ein Tuch.

Bist du ein Jude?

Einer der vier jungen Männer hat dem Jungen die Faust auf die Wange geschlagen, die Finger mit den Ringen aus nicht rostendem Stahl: bist du ein Jude, und hat ihm den Stuhl, kein Ansatz erkennbar (aber, ja, der Junge erkennt nur das langsame Wandern der Sonne über das sonderbar blinde Schild an der Wand bei der Tür), weggetreten, der Junge - wehr dich, ich kann nicht - liegt nun zwischen den Spelzen und Hülsen im Staub und hält seine Hände, als wären sie mit einer Schnur zusammengebunden, hinter dem Rücken verschränkt. Und einer der vier jungen Männer, die ihn umstehen, tritt dem Jungen in den Unterleib.

Er hat nicht getroffen, nicht richtig. Der Junge krümmt sich dennoch zusammen, und lächelt und spürt eine Sehnsucht nach seinem Bruder, wie er sie selten vorher empfunden hat. Er meint, nun erst zu wissen, ganz sicher, dass der rasende Reiter, Festus, ganz gewiss Festus, sein Bruder sein muss, er wünscht sich, bei seinem Bruder zu sitzen und - Kabel eins: Rauchende Colts - das selten gewaschene Hemd des Mannes zu riechen, der ein Kind geblieben ist. Der Junge möchte sein Gesicht darin vergraben, du bist ein Jude, und weint.

Unsicher sehen die vier zur Tür, an der der Bruder des Jungen, der am Boden liegt, vorüber fährt und horchen, ob das Klappern der Felgen und der Kette am Blech des Kettenschutzes aussetzt und nach einem Augenblick, als warte der Bruder, einsetzt und zurückkehrt zu den Ställen, die lange nicht mehr benutzt worden sind. Aber der Bruder des Jungen radelt, peng!, weiter zum See.

Wieder tritt einer der vier jungen Männer nach dem Jungen. Aber er tut es lustlos, beinahe ohne Kraft.

Wehr dich, sagt er. Doch die Worte sind schon, indem er sie ausspricht, vergessen.

Jude? - Nein, sagt der Junge. Punk und außerdem Jude? Nein, brüllt der Junge und klammert sich an den Turnschuh des jungen Mannes, der, da er nach dem Jungen getreten hat, noch vor dem Jungen, Jude, in der Luft hängt. Langsam pendelt die Sohle, bis sie der Junge mit beiden Händen umfasst, hin und her.

Lass los, sagt vor ihm der junge Mann. Und in seiner Stimme schwingt, gleich dem leisen Pendeln der Sohle, ein Staunen, ein dünnes Zittern - ich glaube das einfach nicht - mit.

Der Junge zerrt an dem Turnschuh, als wolle er sich daran hochziehen. Nun spürt er den Schmerz von der Glut, fühlt das rohe Fleisch, spürt die Wunde, empfindet den Geruch versengter Haut als ungut und zugleich drängend, ich bin kein Jude, und schämt sich, und schämt sich auch seiner Scham. Und vergisst, was er gedacht und was er (vielleicht) empfunden hat, und sieht seinen Bruder noch einmal, den wilden Reiter, am Fenster in der Tür vorbeigleiten.

Und ruft: Ich bin kein Jude. Ich bin, er flüstert und lässt, er möchte die Sohle säubern, den Turnschuh los, wie ihr.

Beiß in den Trog, sagt einer der vier jungen Männer, der, der nicht raucht und nie geraucht hat, indem er auf den runden Rand aus Stein deutet, die Rinder oder die Schweine werden mit Nüstern und Schnauzen darüber gefahren sein, wenn sie, du bist ein Jude, das Kraftfutter im Trog, das Mahlen der mächtigen Zähne, gefressen haben.

Der Junge beißt, das Blut am Kinn ist getrocknet, in den Rand des Trogs. Er schmeckt (und dabei denkt er an seinen Bruder, der nur im Schlaf lächeln kann, ohne das Gesicht, wenn er lacht, zu verkrampfen) den Stein, den viele Tiere vor ihm berührt haben.

Die Sonne, weitergewandert, streift das versengte Haar, das an den Enden blond ist. Und dann die Wange des vor dem Steintrog am Boden kauernden Jungen: der wartet und trotz seiner Schmerzen staunend die Härte des Steins an den Kanten der oberen Schneidezähne wie einen undeutlichen Trost spürt, als einer der vier jungen Männer mehrfach, er trägt festes Schuhwerk, auf den, du bist kein Jude, Kopf des vor ihm Kauernden springt und ihm den Schädel bricht und den Jungen tötet.


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