Die Gier nach mehr

Literatur Dorothee Elmiger führt uns nach Übersee – an einen Ort, an dem man über sich hinauswachsen kann
Ausgabe 35/2020

Der erste Lotto-Millionär der Schweiz hatte kein Glück. Werner Bruni, aus ärmlichen Verhältnissen stammend, konnte mit Geld nicht umgehen. Dorothee Elmiger schaut sich immer wieder die Szene aus einem Dokumentarfilm an, in der Brunis Besitz zwangsversteigert wird. Ausgelassene Stimmung, das Volk steht dicht gedrängt, in freudiger Erwartung des Rituals, „das diesen übermütigen Arbeiter endgültig eines Besseren belehren und die Ordnung wieder herstellen wird“. In ihrem „Bericht einer Recherche“, wie Elmiger ihr drittes Buch nennt, sammelt sie Ausbruchsversuche. Bruni floh aus der Schweizer Beengung über das Meer, nach „Übersee“, wie es hier immer wieder heißt.

Weitere Figuren, literarische wie historische, zieht es dorthin: den Missionar, der von Gier gepackt in den Sklavenhandel einsteigt; die junge Frau, die ein Schiff nach Südamerika besteigt mit dem Vorhaben, den mitfahrenden Tänzer Vaslav Nijinsky zu verführen; Max Frisch, der sich in Montauk an fremder Jugend labt. Übersee steht geografisch wie metaphorisch für etwas auf dem Globus, in sich selbst oder einem anderen, das die Sehnsucht weckt und zu großen Taten herausfordert. Die Protagonisten gieren nach dem Mehr: Geld, Empfindung, Freiheit. In Übersee wird auch ganz real der Stoff produziert, mit dem Europa sich in den Jahrhunderten des Aufbruchs aufputscht und zu vergessen sucht: Zucker, Tee, Tabak, Kaffee und Träume.

Regelbruch, Sünde, Extase

All diese Leidenschaften erscheinen als Variationen eines einzigen Triebs: dem nach der Entfesslung. Offen bleibt, welcher Kraft diese Macht dient, ob sich das Verlangen „als zerstörerisches manifestiert, oder, im Gegenteil, der Zerstörung entgegenwirkt“. Eine zwiespältige Kraft wirkt hier, die alles lenkt und leitet: den Freiheitsdrang des auswandernden Europäers, die Beziehung zu seinen Sklaven, deren Erhebung und blutige Revolte gegen ihren Unterdrücker. Wer dem Hunger folgt, wird sich versündigen, wird Regeln brechen, Grenzen überwinden, muss sich selbst verlassen, also jenen Punkt, an dem man immer schon definiert und damit gefangen ist. „Die Ekstase als Entfernung von einer Stelle, als Aus-sich-Herausgehen.“ Die Erzählerin schildert eine Szene aus ihrer Romanze mit einem jungen Amerikaner. „Der Sex im Albatross Motel in Montauk, als lägen wir im Ehebett unserer Eltern, der Älteren, als hätte in diesem Bett die ganze Welt schon gelegen.“ Später, in der Nacht, erschrickt sie, sieht einen Schatten, greift nach einem Messer. Der Horror, der hier lauert, ist die Vorstellung, immer nur so lieben zu können, wie Generationen es schon taten. Dabei müsste da doch eine ganz eigene Liebe darauf warten, geliebt zu werden.

Elmiger erinnert an den französischen Phänomenologen Merleau-Ponty und seinen Begriff des Geometrals. Der besagt, dass man einen Gegenstand – hier: ein Haus – von allen Seiten betrachten könne und es aus jeder Perspektive anders aussehe. Das tatsächliche Haus unterscheide sich von all diesen Häusern, „es sei ,der nichtperspektive Term, von dem alle Perspektiven abzuleiten wären‘, es sei ‚das Haus, von nirgendwoher gesehen‘ “. Der Ort ihrer eigenen Sehnsucht ist einer, an dem die Dinge und Menschen zu einer Eigentlichkeit kommen, an dem sie endlich so sein können, wie sie sind. Elmiger notiert: „ich als Haus, als Geometral, von nirgendwoher gesehen“. Die Utopie besteht darin, zum Beispiel nicht als Körper, als Frau gesehen zu werden, sondern als das, was sinnlich sein kann, ohne vorher einen Sinn zu ergeben, das heißt schon immer einer Funktion zugeführt zu sein. Genau so versucht sich Elmiger auch ihrem Material zu nähern, erklärt sich die tastende Methodik, die Sammlung all dieser scheinbar disparaten Miniaturen, losen Gedanken. Sie nennt es „Gestrüpp“, was sie hier wuchern lässt, was zu begradigen sie sich verweigert.

Die 1985 geborene Schweizerin gibt sich nicht leichtfertig dem Erzählen einer runden Geschichte hin, kann eine solche der Wirklichkeit doch nur Gewalt antun, sie einer Ordnung unterwerfen, die weder Erkenntnisse fördert noch zur ihrer Veränderung qualifiziert. „Die Dinge, die ich beschreibe, mir nicht zu nehmen, sie nicht haben zu wollen, und sie nicht zu schmälern, so eindeutig zu bestimmen, sondern sie im Gegenteil noch freier und unabhängiger zu machen, als sie es waren, bevor ich zum ersten Mal ein Auge auf sie warf.“ Man darf das als Schule der Wahrnehmung bezeichnen, als Aufforderung, die Welt mit zärtlichem Respekt zu betrachten.

Aus der Zuckerfabrik Dorothee Elmiger Hanser 2020, 272 S., 23 €

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