Es kommt kein Trost

Theater Karl Schönherrs „Glaube und Heimat“ mochten auch die Nazis. Michael Thalheimer gräbt es wieder aus
Ausgabe 50/2019

Im ersten Bild ist schon das ganze Werk des Regisseurs enthalten. Ein riesiger Quader rotiert auf der dunklen Bühne, schiebt sich durch dichten Nebel, angetrieben von einer verborgenen Mechanik. Es dröhnt düster, unheilschwanger, unheilig. Und dann: ein Schrei! Alt-Rott, ein betagter Bauer, lehnt an der Steinwand, hält die Arme ausgebreitet wie Christus. Aber er schreit nicht gen Himmel, brüllt nur vor Schmerzen. Ein Bader lässt ihm gerade das Wasser aus dem Bauch.

Der Mensch, wie er hier auftritt, ist den Mechaniken der Welt nicht gewachsen. Er findet in sich keine Kraft, den Mächten zu begegnen, die ihn bestimmen; er windet sich nur durch sein Leben hindurch, bis es endet. Bei Alt-Rott ist der Tod abzusehen. Noch zwei Wochen bis zum letzten Schnaufer gibt der Bader ihm. Sein letzter Wunsch: in der Erde seiner Heimat begraben zu werden. Für dieses letzte Ziel wird er sich wenig später aus Angst vor der Verbannung von einem seiner Söhne lossagen, der wegen seines Glaubens verfolgt wird.

Karl Schönherrs Stück Glaube und Heimat spielt in der Zeit der Gegenreformation. Die Handlung nimmt Motive der Vertreibung einer evangelischen Minderheit in Tirol auf. 1837 wurde sie vor die Wahl gestellt: Entweder sie schworen ihrem Glauben ab oder sie mussten das Land verlassen. Schönherrs Tragödie, 1910 verfasst, war zu seiner Zeit ein Kassenschlager, das perfekte Stück für den herrschenden Zeitgeist, später bei den Nazis beliebt. Heute wird es kaum noch gespielt, dabei ist das archaische Klima durchaus anschlussfähig an unsere Gegenwart: als Erinnerung an die Verbrechen, die Christen einander antaten, als Reflexion über Flucht und Heimat oder Gedanken darüber, wo die unsäglichen rechten Ideen jüngst wieder herkommen könnten.

Michael Thalheimer interessiert anderes. Er ist kein politischer Regisseur, bei ihm geht es immer um das ganz große Drama der Existenz schlechthin. Die Wahl, vor der die Bauernfamilie Rott hier steht, ist bei ihm nur eine Variante des ewigen Kampfes des Menschen: Wird er sich aus seinen Zwängen befreien? Vor dieser Aufgabe steht der junge Rott. Andreas Döhler gibt ihn als gütigen, biederen Mann. Die Arme hängen im Pullover. Das Verhältnis zu seiner katholischen Frau (Stefanie Reinsperger) ist liebevoll distanziert. Döhler ist eine logische Besetzung. Er ist ein intuitiver, sensibler Spieler. Er füllt seine Rolle nicht aus, sondern stolpert in sie hinein, wandert in ihrem Hohlraum umher und stößt gegen die Wände auf der Suche nach einem Ausweg aus dem Schicksal.

„Es kommt kein Trost: Bekennen, bekennen, so geht‘s Seite für Seite, das ganze Buch!“, ruft er verzweifelt und wirft die Bibel gegen den Quader. Ebenso wie sein verstoßener Bruder praktiziert er im Verborgenen den evangelischen Glauben. Andere Dorfbewohner wurden bereits vom Reiter (Ingo Hülsmann), einem sadistischen Gesandten des Kaisers, enttarnt. Als dieser eine Nachbarin tötet, gesteht Rott. „Christoph, warum hast uns so ins Elend bracht?“, wimmert seine Frau und er antwortet: „Ich weiß nit, warum. Muss halt tun, wie‘s mich treibt!“ Da steht er zitternd und kann nicht anders. Sein Bekenntnis ist nur ein trügerischer Sieg. Rott wählt lediglich eines von zwei möglichen Unglücken, ein selbstbestimmter Mensch wird er nicht. Die Verhältnisse tastet er nicht an, er bleibt ein Gefangener.

Großmeister der Depression

Das Tragische des antiken Dramas stieß dem Menschen zu, es wirkten Schicksalskräfte. Bei Michael Thalheimer ist es der Mensch selbst, der sich zustößt, der sich hinabstößt. Er ist ein Großmeister des Negativen, der Tristesse und Depression. Der Quader auf der Bühne kann vieles bedeuten: Kirchenmauer, Klagemauer, Kaaba. Er erinnert auch an Stanley Kubricks Film 2001. Primaten stoßen in der Vorzeit auf einen perfekt geformten Stein und entwickeln daraufhin Selbstbewusstsein. Aber wofür nutzen sie ihre neue Macht? Ihr erstes Werkzeug ist eine Waffe. Der Quader ist der Stein als Anstoß, sich die Erde untertan zu machen, nicht mehr Spielball der Naturgewalten zu sein, sondern selbst Gewalt zu üben, sich an sich selbst zu versündigen. Erkenntnis ist bei Thalheimer gleichbedeutend mit der Einsicht in den Ursprung des Menschlichen: die Schwäche. Stets zeigt er auch einen Ausweg auf, um die Fallhöhe zu steigern, den Aufprall nur noch schmerzlicher erscheinen zu lassen. Umso überraschender kommt dann das Ende dieses Abends.

Da stürzt sich der Sohn der Rotts aus Verzweiflung in den Tod. Und Rott? Er wirft sich auf den Reiter, würgt ihn, doch dann lässt er von ihm ab, lädt gar ein zur Verbrüderung. Und tatsächlich: Der Aggressor ergreift die Hand, ist mit Vergebung geschlagen. Natürlich ist dies eine schwer verständliche Reaktion, ein irrsinniger Triumph. Warum sollte ein Mensch demjenigen verzeihen, der am Tod des eigenen Sohnes schuld trägt? Dieses Ende funktioniert nicht realistisch, sondern nur ästhetisch, nur im düsteren Bezugsrahmen, den Thalheimers Werk selbst aufstellt. Indem Rott keine Rache übt, erhebt er sich hier über die Gewalten, die seine Welt bestimmen. Trauernd, doch aufrecht steht er.

Info

Glaube und Heimat Michael Thalheimer (Regie), Berliner Ensemble, bis 31. 12. 19

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