Am Anfang war die Wüste. Die Sonne brennt, Frank kämpft sich durch die Hitze auf der Suche nach Wasser. Die Nachbarn Joe und Mary geben keinen Tropfen ab, unverrichteter Dinge kehrt er zurück und findet seine Familie verdurstend auf dem Fußboden. Ein Albtraum. Frank steckt in einem Loop fest, steht immer und immer wieder vor derselben nicht zu lösenden Aufgabe. Als er sich das nächste Mal zu den Nachbarn aufmacht, bringt er eine Waffe mit, stiehlt das Wasser. Aber Frau und Tochter sterben trotzdem. In dieser Welt ist keine Rettung vorgesehen.
Frank (Frank Willens) ist in einem Adventure Game gefangen, in einer virtuellen Realität. Er weiß nicht, wie er hereingekommen ist, und er weiß nicht, wie er herauskommen soll. Ultraworld heißt das Game, das Susanne Kennedy und der Visual Artist Markus Selg für die Volksbühne „programmiert“ haben. „Würdest du eine perfekte virtuelle Realität von der echten unterscheiden?“, so eine Frage zu Anfang. Mit Blick auf das Bühnenbild muss man verneinen. Die Übergänge von Material und visuellem Effekt verschwimmen drastisch. Frank kämpft sich durch Wüsten, Wälder, Labyrinthe. Zur Beschreibung dieser Theaterbühne bescheiden wir uns vorerst mit dem Ausruf: geile Grafik!
Kafka, Bibel, etc.
Die Designer dieses Games, Susanne Kennedy und Markus Selg, zitieren eifrig die Genesis. Ultraworld ist eine alternative Schöpfungserzählung. Es gilt eine neue Welt und einen neuen Menschen aus der Taufe zu heben. Das zweite große Motiv ist Franz Kafka. Franks trotzigen Ausruf „This isn’t real!“ könnte man auch von dessen Protagonisten erwarten. Auch sie müssen sich in Welten zurechtfinden, deren Gesetzmäßigkeiten sie nicht kennen. Und doch akzeptieren seine Figuren ab einem gewissen Punkt die absurden Settings. „The only way out is in“, heißt es aus dem Off. Es ist eine mögliche Übersetzung des berühmten Ausrufs in Kafkas gleichnamiger Parabel, über einen, der sich verirrt hat und nach dem Weg fragt: „Gib’s auf.“ Es ist dieses Aufgeben, auf das auch Kennedy und Selg hinauswollen. Als Frank aufhört, seine Familie retten zu wollen, und alle Hoffnung auf Rettung fahren lässt, wird er endlich selbst sein Endgegner, oder anders gesagt: das Selbst schlechthin. Er singt einen Choral von Bach: „Was da lebet, muss verderben / Soll es anders werden neu“, und dann begegnet er seinem Schöpfer. Das Paradies ist hier ein Ort für existenzielle Aussteiger: der Moment selbst, der Augenblick, gänzlich befreit von Zukunft und Vergangenheit.
Ultraworld ist nicht Kennedys erste Arbeit, die wie ein ferner Gruß aus dem Silicon Valley daherkommt. Sie inszeniert Messen, in denen die Segnungen der Technologie den neuen Menschen gebären. Damit eckt sie in einer traditionell kapitalismuskritischen und technophoben Branche an. Ihr Außenseitertum verhalf ihr aber auch zu einer steilen Karriere. Nach Lehrjahren in den Niederlanden wurde Kennedy, Jahrgang 1977, schon mit ihrer zweiten Inszenierung in Deutschland zum Theatertreffen eingeladen, bald darauf ging sie als Hausregisseurin an die Berliner Volksbühne. Ihre Inszenierung Women in trouble war der einzige Lichtblick der kurzen, komplizierten Intendanz Chris Dercons.
In Women in trouble verlor sich eine Gruppe Menschmaschinen in einem aseptisch glatten Filmset. Alles an ihnen war vermittelt, ihre Stimmen vom Band eingespielt, ihre Gesichter hinter Masken versteckt, jede Viertelstunde wurden sie wiedergeboren. Es war das Porträt eines kommenden Menschengeschlechts, das mächtig wie willenlos durch die selbst erschaffene Welt schlurft. Es war ein Transhumanismus-Spektakel.
Ultraworld erscheint nun wie das Prequel zu diesem Meisterwerk. Frank muss erst noch lernen, den allzu menschlichen Impuls zu unterdrücken, Trauer vermeiden und Glück erreichen zu wollen. Erst als er es aufgibt, das Spiel gewinnen zu wollen, gelingt ihm der Ausbruch. Der Vorwurf seichter Spiritualität liegt nahe, jedoch sollte man sich davon nicht schrecken lassen. Kennedy reflektiert die kulturellen Umwälzungen, die mit der technologischen Revolution unserer Zeit einhergehen, spekuliert über die Auswirkungen auf Wahrnehmung, Körperlichkeit, Beziehungen und Gesellschaft. Sie ist damit einer Branche weit voraus, die es als fortschrittlich erachtet, dem authentisch schwitzenden Performerkörper zu huldigen. Nichts läge ihr ferner.
Ihre Figuren haben ihre Körperlichkeit immer schon überwunden, sind aufgelöst in Virtualität. Weniger am Theater als an Filmen und bildender Kunst orientieren sich Kennedy und Selg. David Lynch und Terence Malick sind nie fern, auch Lars von Triers Antichrist wird zitiert. John Cage und Minimal-Art-Maler wie Barnett Newman stehen Pate. Sie wandten sich fernöstlicher Spiritualität zu, um der kulturgeschichtlichen Konzentration auf das Ich und der Ratio zu entkommen. Kennedy verbindet diese Agenda mit technikphilosophischen Spekulationen. Ihre Inszenierungen sind Visionen einer neuen, von den Fesseln der Natur befreiten Menschlichkeit. Sanft flüstern sie uns zu: Ich träume, also bin ich.
Info
Ultraworld Susanne Kennedy, Martin Sel (Regie) Volksbühne Berlin, bis 23. Februar 2020
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