Perverser Minnesang

Literatur Wie in einem Sog reißt einen der Roman „Mein kleines Prachttier" in die Abgründe seiner pädophilen Erzählfigur. Marieke Lucas Rijneveld überlässt ihm trotzdem nicht die Deutungshoheit über sein Opfer – ein literarisches Kunststück
Marieke Lucas Rijnevelds Schreiben zieht hinab in die Besessenheit eines pädophilen Täters
Marieke Lucas Rijnevelds Schreiben zieht hinab in die Besessenheit eines pädophilen Täters

Foto: Jeroen Jumelet/ANP/AFP via Getty Images

„Für dich“ steht da als Widmung, nur zwei Wörter auf dem weißen Blatt, eine Seite nach dem Titel. „Für dich, damit ist die Angebetete gemeint, das junge Mädchen, Adressatin dieses Liebesbriefs, dieser sexuellen Zwangsvollstreckung, exekutiert durch einen viel älteren Mann, der dem Mädchen verfällt, der es überfällt. Aber dieses „Du“ meint auch den Leser, dem dieses Geständnis in die Hände fiel, und der sich nun nicht weniger dem Drängen, der Geilheit, dem Geifer erwehren kann, die auf den folgenden 360 Seiten auf ihn niederfährt.

Ein Tierarzt verliebt sich unsterblich in die 14-jährige Tochter eines Bauern, in der „Zwielichtzone zwischen Mädchen und Frau“ lauert er ihr auf. Jahre später, im Gefängnis sitzend, berauscht er sich noch einmal in der Rückschau an seine Sünden. Kurt, heißt er, das Objekt seiner Begierde nennt er „Meine himmlische Auserkorene, „Mein Augenstern“ oder Mein kleines Prachttier, wie auch der Roman heißt, ein Sogstrom aus Buch, die einzelnen Kapitel kommen fast gänzliche ohne Punkte aus, das ist keine Prosa, das ist Musik, das ist perverser Minnesang.

Marieke Lucas Rijneveld heißt die Autorin. In weltweite Bekanntheit geriet sie, nachdem die Niederländerin das Angebot angenommen hatte, Amanda Gormans Gedicht The Hill We Climb, zu übersetzen, berühmt geworden durch Joe Bidens Inaugurations-Feier. Ein Shitstorm folgte, denn keine Weiße dürfe diesen Text übersetzen, so hieß es. Zuvor erhielt sie, Jahrgang 1991, als jüngste Preisträgerin jemals, den Internationalen Booker Preis für ihr Romandebüt Was man sät, die düstere Geschichte einer Familie, die nach dem Tod des ältesten Sohnes implodiert, die Eltern ziehen sich in sich selbst zurück, die Kinder gehen an Traurigkeit zugrunde.

Jenseits der starren Grenzen der Vernunft

Auch das namenlose Mädchen in Mein kleines Prachttier hat einen Bruder verloren, die Mutter verließ danach den Hof. So heimatlos geworden, fehlt ihr der Halt. Heimlich schwebt sie Nacht für Nacht nach New York, glaubt, sie sei leibhaftig in das World Trade Center geflogen, hätte es zum Einsturz gebracht. Sie ist der Traumwelt noch nicht entwachsen, ist noch Kind genug, um nicht unterscheiden zu können und zu müssen zwischen Fantasie und Wirklichkeit, will auch sexuell im Unbestimmten bleiben, wünscht sich einen „Pimmel, lässt sich vom Tierarzt den eines Otters schenken und versteckt ihn unterm Kinderbett.

Es ist ein Kunststück der Autorin, von einem Missbrauch aus der Perspektive des Täters zu erzählen, und das Mädchen doch nicht als reines Opfer erscheinen zu lassen, es dem Mann nicht zu überlassen für seine Projektion. Die eigentliche Hauptfigur dieses Romans ist die Bauerntochter, eine verlorene Pippi Langstrumpf, ein revoltierender Peter Pan, den gewaltige Mächte ins Erwachsensein zerren. Der Missbrauch durch Kurt, der sie zu verführen meint, und seine Gier mit Liebe verwechselt, lässt sich auch als Metapher verstehen für die Anmaßung der Biologie wie der Gesellschaft, einen schuldlosen Menschen aus jener Zone zu vertreiben, in der noch alles möglich ist und ungewiss, in dem das Gute wie das Schreckliche noch nicht in die starren Grenzen der Vernunft gepresst wurden, als könnten diese das Leid verhindern, das doch an jeder Ecke lauert.

Dem Mädchen wird schließlich die Flucht gelingen, sie wird Musikerin, ein Star, ihr erstes Album nennt sie nach ihrem Peiniger. Doch keine Befreiung wird sie erfahren, nur in ihrer Kunst findet sie eine Nische, eine Ausflucht vor den Bedrängnissen jener Erwachsenen, die ihr kein sicheres Geleit zubilligten. Rijneveld und ihre wunderbare Übersetzerin Helga van Beuningen erzählen nicht zuletzt vom Wert der Literatur, der Worte, als Ausweg für Menschen, die zu feinfühlig sind für das Leben in einer Welt, die aus kalten Wörtern aufgebaut ist.

Mein kleines Prachttier Marieke Lucas Rijneveld Suhrkamp 2021, 364S., 24 €

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