Am 21. März 2012 riefen die Vereinten Nationen erstmals zum Welt-Downsyndrom-Tag auf. Der UN-Generalrat erklärte damals in einer Resolution, die Trisomie 21 als Grundlage des Syndroms sei „eine natürlich auftretende chromosomale Anlage“, die stets ein Teil der Menschheit gewesen sei und die für die Individuen verschiedene Folgen habe in Bezug auf die Art zu lernen, auf körperliche Charakteristika oder die Gesundheit. Für die Entwicklung der Individuen seien Frühförderprogramme und inklusive Bildung entscheidend. Im gleichen Jahr brachte die Konstanzer Firma LifeCodexx einen Test auf den deutschen Markt, der im Blut einer Schwangeren genetische Hinweise auf eine mögliche Trisomie 21 und andere Merkmale beim Fötus finden soll. Die Entwicklung des Verfahrens war vom CDU-geführten Bundesforschungsministerium finanziell gefördert worden. Mittlerweile gibt es mehrere Anbieter von sogenannten nicht-invasiven Pränataltests (NIPT). Eine große Mehrheit der Schwangeren entscheidet sich mittlerweile für einen Abbruch, wenn den Testergebnissen zufolge eine Trisomie 21 wahrscheinlich ist.
Fragwürdige Argumente
Etwas mehr als sieben Jahre nach dem ersten Welt-Downsyndrom-Tag diskutierten Abgeordnete des deutschen Bundestages darüber, ob derartige NIPT in den regulären Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherungen aufzunehmen seien. Der Gemeinsame Bundesausschuss, der über eine Kassenfinanzierung des neuen Verfahrens zu entscheiden hat, hatte den Bundestag 2016 um eine„Orientierungsdebatte“ gebeten. Deren Notwendigkeit war bereits 2013 von der behindertenpolitischen Sprecherin der Grünen, Corinna Rüffer, angemahnt worden, die den Tests kritisch gegenübersteht.
Viele Abgeordnete plädierten indes für eine Regelfinanzierung, indem sie eine auf medizinische Aspekte verengte Perspektive einnahmen: Demnach lassen sich bei sogenannten Risikoschwangerschaften mittels vorgeburtlicher Diagnostik – unter anderem – „Risiken“ und „Verdachtsfälle“ von Trisomie 21 beim Fötus entdecken. Karl Lauterbach (SPD), der diese Position besonders prononciert vertrat, drückte damit allerdings keinen rein medizinischen Sachverhalt aus, sondern ein Werturteil. „Eine individuelle Wahrscheinlichkeit für ein Kind mit Trisomie 21 macht dieses werdende Kind noch nicht zu einem Risiko“, heißt es in einer gemeinsamen Stellungnahme des Bundesverbands der Körper- und Mehrfachbehinderten, des Netzwerks gegen Pränataldiagnostik, des Gen-ethischen Netzwerks und anderer Organisationen. Das Down-Syndrom kann zwar von bestimmten Erkrankungen begleitet sein, etwa einem Herzfehler oder einer Beeinträchtigung des Gehörs, diese sind aber heutzutage medizinisch gut zu behandeln.
Verknüpft wurde die Behauptung eines Risikos mit der These, NIPT seien im Grunde nichts Neues; als zuverlässigere Methode ersetzten sie lediglich die bisherigen Fruchtwasseruntersuchungen (Amniozentesen). Doch beide Arten der Diagnostik bieten weder für die Schwangere noch für den Fötus einen therapeutischen Nutzen. In der Vergangenheit wurde der Adressatinnenkreis für Amniozentesen stark ausgeweitet; mit Blick auf die NIPT ist eine ähnliche Entwicklung zu erwarten. Zudem bestimmen die NIPT lediglich eine Wahrscheinlichkeit, weshalb in vielen Fällen auch weiterhin invasive Verfahren angewendet werden. Vor diesem Hintergrund kommt das von den gesetzlichen Kassen finanzierte Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen in einem Bericht vom April 2018 zu dem Schluss, dass „nicht von einer Verringerung der invasiven Untersuchungen ausgegangen“ werden könne.
Fraktionsübergreifend vertraten Parlamentarier die Auffassung, man müsse NIPT aus Gründen sozialer Gerechtigkeit auch für gesetzlich Versicherte finanzieren. Auch dieses scheinbar schlagende Argument ist zweifelhaft. Pränatale Tests kosten heute zwischen 130 und 300 Euro. In den vergangenen Jahrzehnten haben Parteien in der Bundesregierung – die Union, FDP, SPD und Grüne – den Sozialabbau vorangetrieben. Ginge es der aktuellen Koalition tatsächlich um soziale Gerechtigkeit, dann hätte sie viele Möglichkeiten, Menschen mit geringem Einkommen zu entlasten. Beispielsweise könnte sie das Elterngeld, anders als bisher, nicht mehr auf Hartz IV-Leistungen anrechnen. Derartige Maßnahmen zogen die Redner der Koalitionsparteien jedoch nicht in Betracht. Eine Ausnahme war Dagmar Schmidt (SPD), die erklärte, es brauche Verbesserungen bei vielen Leistungen, „von Zahnersatz bis Brille“. Es seien die Hersteller gewesen, die den Antrag zur Aufnahme der NIPT in den Leistungskatalog gestellt hätten; sie bewegten sich auf einem „lukrativen und stark umkämpften Markt“. Die Linken-Abgeordnete Kathrin Vogler warnte davor, dass in den kommenden Jahren weitere Tests bei „werdenden Eltern aggressiv beworben“ werden mit dem „Versprechen auf Sicherheit“.
Keine Sorge wegen mangelnder Teilhabe?
Das in der Debatte mehrfach angeführte „Recht auf Information“ ist keineswegs eindeutig. Die Frage ist, welche Informationen Schwangeren vermittelt werden. Dagmar Schmidt erklärte dazu: „Wir haben viele Erfahrungen, in denen Ärzte alles, was möglich ist, mit den Worten empfehlen: ‚Dann haben Sie Sicherheit‘ und auf die Folgeentscheidung bei positivem Ergebnis eben nicht vorbereiten.“ Solange Pränataldiagnostik ohne therapeutischen Wert nahegelegt und kein realistisches Bild vom Leben mit einem behinderten Kind vermittelt wird, kann von einer selbstbestimmten Entscheidung keine Rede sein. Welche Chancen behinderte Kinder auf Gesundheit, Bildung, Wohnen, Unterstützung und ökonomische Absicherung erhalten, hängt nicht zuletzt von den gesellschaftlichen Verhältnissen ab. Insofern sind die in der Debatte vorgetragenen Forderungen nach mehr Inklusion sicher richtig. Realitätsfern ist allerdings die Behauptung von Wilfried Oellers (CDU), niemand müsse „Sorge haben, mit eventuellen Beeinträchtigungen nicht am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu können“; man sei dabei, „dies weiter zu verbessern“. Es sind gerade Union und FDP, die eine entsprechende Umgestaltung der Gesellschaft verzögern, wenn nicht blockieren.
Abgeordnete der AfD instrumentalisierten das Thema, um einen angeblich zu liberalen Umgang mit dem Thema Schwangerschaftsabbruch anzuprangern. Axel Gehrke unterstellte, es werde „nicht nur toleriert, sondern politisch sogar propagiert“, sich gegen ein Kind zu entscheiden. Seine Parteikollegin Beatrix von Storch argwöhnte, es gebe „Kräfte, die wollen eine Welt mit optimierten Menschen, produktiv und leistungsfähig und vor allem gesund“. Ihre Kritik an den Tests ist vor dem Hintergrund zu bewerten, dass sie wiederholt an Demonstrationen fundamentalistischer Abtreibungsgegner teilgenommen hat und dass die Ablehnung schulischer Inklusion der hauptsächliche behindertenpolitische Programmpunkt ihrer Partei ist. Übrigens sprachen mehrere Parlamentarier von „ungeborenen Kindern“, wenn sie eigentlich Föten meinten. Rechtspopulisten verwenden diesen Begriff, um Schwangerschaftsabbruch mit Mord gleichzusetzen.
Nur wenige Beiträge in der Bundestagsdebatte stellten sich einer einfachen Tatsache: Eine Finanzierung selektiver Bluttests durch die gesetzlichen Kassen würde eine Praxis unterstützen, die eine Geburt von Kindern mit Down-Syndrom vermeidet. Menschen mit Trisomie 21 bekämen damit signalisiert, dass ihre „natürlich auftretende chromosomale Anlage“, für die die Vereinten Nationen sensibilisieren will, gesellschaftlich unerwünscht ist.
Dr. Michael Zander vertritt derzeit die Professur „System der Rehabilitation“ im Studiengang Rehabilitationspsychologie an der Hochschule Magdeburg-Stendal
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