Alternativlose Medien

Das TINA-Prinzip Warum alternative Medien Hochkonjunktur haben

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Im ersten Lockdown war die Aufregung groß. Die Angst vor dem Virus erschien vielen Menschen übermächtig. Die Angst vor einer Meinungsdiktatur auf der anderen Seite ebenso. Umso dringlicher erschien es vielen Leitmedien, mit der Politik an einem Strang zu ziehen und Kritik an den Maßnahmen allenfalls im Kleinen zu üben. Aktuell scheint auf beiden Seiten, was diesen Kampf um die Meinungshoheit angeht, die Luft draußen zu sein. Große Demos gibt es derzeit nicht und die Berichterstattung ist wieder ein wenig differenzierter. Ganz allgemein lässt sich die derzeitige Stimmung als weniger aufgeregt beschreiben. Um nicht allzu depressiv zu werden, könnte es eine gute Zeit sein, um sich Gedanken darüber zu machen, was in den letzten Monaten medial passierte.

Gehen wir jedoch, bevor wir das tun, noch viel weiter zurück, nämlich bis in die 80er Jahre. Damals wurde ein Akronym namens TINA geboren, zurückgehend auf eine gewisse Margaret Thatcher. TINA steht für "there ist no alternative". Ein Satz, der auch uns Deutschen nur allzu bekannt ist, wenn wir uns an das Merkelsche Gegenstück von "dies ist alternativlos" erinnern. In Corona-Zeiten scheint sehr vieles alternativlos zu sein, wobei die Alternativlosigkeit entweder direkt oder indirekt vermittelt wird. Die direkte Variante lautet "diese Maßnahmen dürfen niemals hinterfragt werden". Die indirekte lautet "wollen wir wirklich so viele Menschen sterben lassen?".

2013 wurde die AfD gegründet, die in ihrem Namen explizit den Begriff der Alternative trägt. Seit 2020 gibt es die Bewegung Querdenken. Ein Begriff der ebenfalls eine alternative Denkweise deutlich macht. Diese Namenswahlen sind sicherlich kein Zufall. Doch während 2013-2019 eine alternative politische Denkweise eher eine Minderheit ansprach, wuchs diese Minderheit 2020 auf etwa 30% an, wenn auch in verschiedene politische Richtungen. Lediglich eine kleine Gruppe von Querdenkern liebäugelt gleichzeitig mit der AfD. Und dennoch suchen sie nach alternativen Angeboten in der Medienlandschaft, um dem alternativlosen Denken zu entkommen. Man könnte sagen, diese etwa 30% haben das Vertrauen in die Politk und die großen Leitmedien verloren. Oder aber sie sind neugierig und suchen nach Antworten jenseits des Mainstreams.

Nun geht die Angst um, diese Menschen sowohl für die offiziellen Medien als auch für die Politik verloren zu haben. Tatsächlich ist ein Vertrauensverlust, das weiß wohl jede:r aus den eigenen Beziehungen, schwer zu kitten. Doch warum ist diese Entwicklung 2020 so eskaliert? Alternative Angebote von KenFM bis zu Rubikon gab es bislang auch schon. Ein Blick auf die sogegannte Wissenstreppe verdeutlicht uns diesen Zusammenhang:

- Daten benötigen eine Bedeutung, um zu Informationen zu werden.

- Informationen benötigen Vernetzung, um zu Wissen zu werden.

- Und Wissen benötigt Motivation, um zu Handlungen zu führen.

Selbst die Flüchtlingskrise 2015 besaß für viele Bürger:innen nur eine bedingte Relevanz. Entsprechende Daten rauschten an ihnen vorbei. Bei Corona wäre es ähnlich gewesen. In Deutschland sterben jeden Tag 2500 Menschen. Für Nichtbetroffene waren diese Daten bislang irrelevant. Die Maßnahmen wiederum sind für uns alle von Bedeutung. Sie bestimmen, dass wir eine Maske zu tragen haben, wen wir treffen und ob wir arbeiten dürfen. Damit werden Daten zu Informationen, um die wir uns kümmern müssen. Viele Kritiker der Maßnahmen bezeichnen sich selbst als bis dato unpolitisch. Die allumfassende Relevanz der Maßnahmen machen uns jedoch alle zu politischen Menschen, die sich aufgrund der Bedeutung von Inzidenzen mit einem Thema befassen müssen, mit dem sie sich vermutlich nicht befassen wollen. Plötzlich hängen ihr Selbstverständnis und ihre Existenz von einer einzigen Zahl ab. Es ist leicht nachvollziehbar, dass diese Information mit anderen Informationen in Verbindung gebracht werden will, um sich Wissen über die Situation anzueignen. Die Vernetzung mit anderen Informationen geht dabei sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zukunft. Wie war das damals mit der Schweinegrippe? Meint es die Pharmaindustrie wirklich gut mit uns? Was hat Impfen mit Solidarität zu tun? Inwiefern bestätigten sich alternative Hypothesen zur Entwicklung der Pandemie und des Virus Monate später? In welchen Punkten lagen sie falsch? Inwiefern bestätigten sich die Vorhersagen der beratenden Wissenschaftler:innen? Wo lagen sie falsch? Entwickeln wir uns in einen Gesundheits- und Kontroll-Staat? Oder wird es in der Zukunft Nischen geben, sich selbst zu schaden, indem ich mich ungesund, aber lustvoll ernähre, weil ich es eben möchte? Der alternativlose Weg von Daten über Informationen zu Wissen und Handlungen erscheint einfach: "Tun Sie, was das RKI sagt und hinterfragen Sie nichts." Für Menschen, deren Leben sich durch die Maßnahmen nur wenig veränderte, erscheint dieser Weg leicht nachvollziehbar. Für Menschen, deren Leben von den Beinen auf den Kopf gestellt wurde, erscheint es durchaus legitim, sich Fragen nach Alternativwegen zu stellen. Wenn Angela Merkel auf der letzten Presskonferenz sinngemäß sagt, die Entscheidung, keine kritischen Stimmen in das Kanzleramt einzuladen ist eine politische Entscheidung, wird jedoch deutlich, dass zu irgendeinem Zeitpunkt in den letzten Monaten die Entscheidung fiel, Lockdowns als alternativloses Mittel der Wahl zur Bekämpfung der Pandemie zu preferieren, anstatt sich stärker auf die wirklichen Hotspots in Altenheimen und Krankenhäusern zu konzentrieren. Diese alternativlose Denke spiegelte sich lange Zeit auch in den Leitmedien wieder. Dabei wird die Wirkung von Lockdowns durchaus auch von anerkannten Wissenschaftlern kritisiert, nachzulesen beispielsweise hier: https://www.sueddeutsche.de/gesundheit/pandemie-infektionsuebertragung-lockdown-massnahmen-coronavirus-1.5151446

Beraten werden die Kanzlerin und ihre Notstandsministerpräsident:innen jedoch ausnahmslos von Lockdown-Befürwortern. Es geht folglich mehr um die Details als um Richtungsentscheidungen. Während es eine zeitlang den Anschein hatte, dass sich die Politik hinter der Wissenschaft versteckt, ist damit zumindest klar, dass die Politik nach wie vor ihre Rolle wahrnimmt. Angela Merkel und ihr Stab haben sich dafür entschieden, den Lockdown-Weg zu gehen. Dass dies allerdings die Gefahr einer "brutalen Phantasielosigkeit" beinhaltet wie Heribert Prantl in einer Videokolumne in der Süddeutschen Anfang Januar konstatierte, liegt auf der Hand. Stellen wir uns die Möglichkeit einer Beratung mittels einer horizontaler und vertikaler Schiene vor, lässt sich die Regierung sinnbildlich lediglich horizontal beraten. Der Kommunikationspsychologe Paul Watzlawick hätte das das "Mehr-vom-Gleichen"-Prinzip genannt. Die vertikale Schiene wird nicht berücksichtig. Dabei wäre es unfair, Wissenschaftler wie Drosten ins Visier zu nehmen, wie manche Kritiker dies tun. Ein Drosten macht einfach nur seinen Job. Seine Prognosen mögen einer pessimistischen Natur folgen, wie dies bereits bei der Schweinegrippe der Fall war. Aber die Wissenschaft ist nunmal keine Kristallkugel. Der schwarze Peter liegt stattdessen auf dem Tisch der Regierung. Während ein Pessimist wie Drosten aus Daten Sommer-Horrorszenarien ersinnt, kommt ein Optimist wie Streeck zu ganz anderen Ergebnissen. Würde sich die Regierung von beiden beraten lassen, käme vermutlich die goldene Mitte heraus.

Nun bin ich selbst weder Virologe, noch Epidemiologe, sondern Geisteswissenschaftler und kann daher die Gedankengänge dieser beiden Wissenschaftler nicht nachvollziehen. Aus Metaebenen-Sicht ist es jedoch interessant, dass in der Rückschau meist an beiden Denk- oder besser Glaubensrichtungen ein wenig Wahres dran ist. In der Vorausschau regiert meist die pessimistische oder die optimistische Sichtweise in Reinkultur. In der Rückschau ist das Leben idR. viel langweiliger. Die pessimistische Sicht hilft uns, das Schlimmste zu verhindern. Derzeit fehlt uns jedoch ein optimistischer Funke, weshalb viele Menschen von einer umfassenden Müdigkeit berichten.

Nun stellt sich die Frage, woher diese Alternativlosigkeit kommt? Die Antwort, dass damit das Regieren einfacher wird, weil sich die Politik nicht um "Diskussionsorgien" kümmern muss, greift zu kurz. Stattdessen scheint es ein Zeichen der Zeit zu sein, in einer unsicheren Welt, die immer hektischer und unüberschaubarer wird, klare Wege vorzugeben. In Zeiten, in denen die Menschen davon nicht direkt betroffen waren, war die Relevanz entsprechend überschaubar. Der common sense zum Thema Klima tut nicht weh, wenn ich nach wie vor nicht gezwungen werde, ab nächster Woche nur noch meine Milch im Glas zu kaufen. In diesem Sinne sind die Corona-Maßnahmen eine Zäsur, die bei Kritikern die Alarmglocken klingeln lassen. Wenn die Alternativlosigkeit hier rigide durchgesetzt wird, könnte dies auch zu anderen Themen der Fall sein, insbesondere wenn es um die Rettung des Umwelt geht. Nun wäre diese kein wirkliches Problem, würden wir tatsächlich in einer Welt leben, die sich "united behind the science" positionieren könnte. Warum nicht, wenn damit die Welt gerettet werden kann?

Wäre da nicht der unsägliche Druck auf den Wissenschaftsbetrieb, der manche Veröffentlichung forciert, die sich im Nachhinein als wenig tragfähig herausstellt. Tatsächlich muss sich der vermeintlich seriöse Wissenschaftbetrieb mit dem Vorwurf auseinander setzen, dass eine Vielzahl an veröffentlichen Studien nicht nur falsch sind sondern zudem bewusst gefälscht werden (nachzulesen in James Bridle: New Dark Ages bzw. hier: http://www.m-huebler.de/fake-news-aus-dem-wissenschaftsbetrieb). Damit stellt sich die Frage, ob manche Wissenschaftsrichtungen tatsächlich noch unabhängig arbeiten oder stattdessen, evtl. auch unbewusst, einem common sense folgen, um Ergebnisse zu produzieren, die tatsächlich verwertbar sind? In einer Kultur des allgemeinen Pessimismus, in der nur schlechte Nachrichten gute Nachrichten sind, um auf sich aufmerksam zu machen, haben besonnene, relativierende oder gar optimistische Aussagen einen geringen Nachrichtenwert. Der Vorwurf an die Wissenschaft, damit Fake-News absichtlich oder unabsichtlich zu produzieren geht folglich nicht nur in Richtung Trump und Konsorten, sondern kann ebenso in Richtung des vermeintlich seriösen Wissenschaftsbetriebs gerichtet werden. Dies veranlasste die Zeitung New Yorker vor einigen Jahren zu folgender Aufforderung: "Die Wissenschaft hat festgestellt, dass Kaffee gesund ist. Trinken Sie daher in dieser Woche so viel Kaffee wie möglich. Denn vermutlich wird sie in der nächsten Woche auf das Gegenteil kommen."

Würde all dies in seiner Komplexität auch aus einer Meta-Sichtweise zur öffentlichen Diskussion gestellt, würden vermutlich weniger Menschen zu alternativen Medien abwandern. Stattdessen werden die Fronten größer. Auf der einen Seite steht die Alternativlosigkeit der Maßnahmen, unterstützt von den großen Leitmedien, auf der anderen Seite alternative Seiten mit teils kruden verschwörerischen Aussagen. Diese Drift spiegelt sich auch in der politischen Arena wieder. Waren in früheren Zeiten Parteilinien klar erkennbar, gilt seit einiger Zeit die Tendenz zur Mitte: CDU/CSU, SPD oder Grüne sind nur noch marginal unterscheidbar. Stattdessen gibt es Mischformen wie die soziale Merkel oder den grünen Söder. Bereits Otto Schily war mehr schwarz als rot. Und Gerhard Schröder gefiel sich als Boss der Bosse. Diese Drift in die scheinbar alternativlose, bürgerliche Mitte führt jedoch gleichzeitig zu einer Drift an den Rändern. Auf der einen Seite steht die AfD, die in früheren Zeiten durchaus in der CDU/CSU eine Heimat gefunden hätte und auf der anderen Seite die Linke, in Teilen auch Reste der Grünen, die vermutlich in Zukunft mit einer weiteren Zersplitterung konfrontiert werden. Wer sich das Parteiprogramm der Basispartei aus dem Umfeld der Querdenker ansieht, glaubt sich in die Gründungszeit der Grünen zurückversetzt. Tatsächlich lässt der Streit auf dem letzten Grünen-Parteitag um das Prinzip der Basisdemokratie das Sprengpotential erkennen, das bereits im Begriff der Basispartei vorhanden ist. Und wer sich regelmäßig Sarah Wagenknechts Wochenschau zu Gemüte fügt, erkennt auch hier die Zereissprobe, in der sich linke Positionen derzeit befinden. Ob die FDP ebenfalls von der Drift in die Mitte profitiert, wird sich zeigen.

Fakt ist: Die Corona-Maßnahmen bringen nach der ersten Phase der Aufregung Bewegung in das politische Spiel. Dies muss noch kein Drama sein, solange wir keine italienischen Verhältnisse bekommen und sich damit vielleicht sogar mehr Menschen auf der politischen Bühne repräsentiert fühlen als zuvor. Wir könnten uns auch darüber freuen, dass sich so viele Menschen politisieren. Die Medien wiederum täten gut daran, die Diskussion - ähnlich wie im Debattenteil des Freitag - auf eine seriöse Art und Weise aus den Schmuddelecken mancher Blogs zurückzuholen. Damit kämen sie weg vom TINA-Prinzip und hin zu einem TATA-Verständnis: There Are Thousands of Alternatives.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Hübler

Coach, Mediator, Organisationsentwickler, Autor

Michael Hübler

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden