Der Fortschritt überholt uns, wieder einmal

Ethik Der Fortschritt ist schneller als der ethische Umgang damit

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Je genauer wir hinsehen, je mehr wir wissen, desto mehr müssen wir regeln. Am Beispiel der Medizin: Wenn es einen Test gibt, der Viren erkennt, die wir prinzipiell schon lange kennen, nun aber wissen, um welche es sich genau handelt und wie sie wirken – zumindest in Ansätzen – werden wir moralisch zu einer Reaktion gezwungen. Damit manövriert sich die Gesellschaft in ein ethisches Dilemma: Während 2017/18 Grippeviren 25-30.000 Tote forderten, gibt es nun einen konkreten Namen für ein Killervirus. Das Nichtwissen machte es leichter, mit Toten umzugehen. Wer keine Zange besitzt, sieht auch keine Nägel. Wer jedoch eine Zange hat, sieht überall Nägel, die er entfernen könnte.

Das gleiche gilt für die Automatisierung von Robotern. Bisher folgte die Rechtsprechung dem Prinzip: Es lässt sich nicht alles regeln, also wird im Nachhinein über Schuld oder Fahrlässigkeit entschieden. Bei Menschen funktioniert das. Hier können im Nachhinein Motive, Beweggründe oder Absichten hinterfragt werden, um zu einer richterlichen Entscheidung zu kommen. Selbstfahrende Autos müssen vorweg eine Ethik einprogrammiert bekommen. Wie vorsichtig oder forsch sollen Autos fahren? Worauf sollen sie Rücksicht nehmen? Eine mögliche Schuld muss präventiv bewertet werden.

Das Prinzip dahinter lautet Granulierung oder Parzellierung. Je mehr Schatten ausgeleuchtet werden, desto mehr Gedanken müssen wir uns über diese Wissens-Details machen. Und aller Fortschritt strebt seit jeher in diese Richtung: Tests entdecken Viren. 5G dringt in bisher unbekannte Räume hinter der Milchkanne vor. Der Empfang wird besser, sicherlich, die Gefahr der Datenspionage jedoch ebenso.

Die Gesellschaft befindet sich durch den Fortschritt mitten in einem moralischen Dilemma: Sie entdeckt neue Krankheiten, erfindet Roboter und dringt in soziale Räume vor, wofür es noch keine ethischen Regeln gibt. Anscheinend überholen wir uns mit dem Fortschritt selbst. Das wiederum ist nicht das erste mal.

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Geschrieben von

Michael Hübler

Coach, Mediator, Organisationsentwickler, Autor

Michael Hübler

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