Der Mensch unter Generalverdacht

Schuld Wie uns Corona zu einer tödlichen Waffe machte

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Der Mensch ist des Menschen Wolf. Ob Thomas Hobbes damals bereits ahnte, dass es einmal Corona geben würde? Zumindest erfand er seinen Leviathan als starken Staat, um die Wolfsartigkeit des Menschen und damit den gegenseitigen Kampf zu unterbinden.

Jahrhunderte später hatten wir das Wesen eines solch autoritären Staates nicht nur in weiten Teilen der Welt, insbesondere in Europa, hinter uns gelassen. Es war auch verpönt, die Bürger von oben herab zu bevormunden. Ein autoritärer Staat war nahe dran an der Diktatur.

Durch Corona kam es zu einer Renaissance des Leviathans. Der Mensch ist wieder des Menschen Wolf und steht unter Generalverdacht. Er braucht jedoch nicht mehr seine Hände oder Waffen, um sich gegenseitig umzubringen. Dieses mal reicht sein Atem.

Auf der staatlichen Ebene werden die Grenzen dicht gemacht. Während wir zuvor in Europa offene Grenzen pflegten, steht nur der Nachbar unter nationalistischem Generalverdacht. Auf persönlicher Ebene zeigt die Maske die Grenze zwischen mir und meinem Gegenüber auf. Mein Atem soll dich nicht töten.

Besonders brutal wird dies deutlich, wenn der bayerische Ministerpräsident zu einem 10-jährigen Mädchen in einem Radiointerview sagt: Wenn du den Abstand nicht einhältst, bist du schlimmstenfalls schuld daran, dass deine Großeltern sterben. Wer mit Kindern und Jugendlichen spricht, realisiert, dass viele dieses Schuldgefühl tief verinnerlicht haben.

Vielleicht wird die Frage nach der Todesursache deshalb so heiß diskutiert. Für den Menschen, der starb ist es irrelevant, an was. Und auf den ersten Blick erscheint es im Angesicht des Todes zynisch, eine Unterscheidung zwischen mit oder an vorzunehmen. Für den Menschen, der direkt oder indirekt schuld an seinem Tod ist, ist es durchaus bedeutsam, ob er bereits sehr alt war, Vorerkrankungen hatte, mit oder an Corona verstarb.

Früher galt eine Lungenentzündung als letzte Gnade eines alten Menschen. Die Angehörigen besuchten ihre Verwandten im Pflegeheim und gaben ihnen über Wochen und Monate hinweg das letzte Geleit. Niemand machte sich Gedanken darüber, ob er letztendlich schuld sein könnte am Tod seiner Großeltern. Heute scheint die Schuldfrage über allem zu stehen. "Sind Impfgegner Mörder?" ist in "sozialen" Medien zu lesen. Wer eine Demonstration besucht, gehört zum Team Risiko und wird damit zum Staatsfeind Nummer 1 deklariert. Sogar das Abhalten eines privaten Festes gilt als mutig, will sagen riskant. Immerhin befinden wir uns nicht in der Arbeit, sondern haben einfach nur Spaß. Und der ist in diesen Zeiten nun wirklich nicht notwendig. Genauso macht es einen Unterschied, ob wir uns im Urlaub im Ausland oder zuhause ansteckten. Als würde das Virus aus dem Ausland ein anderes sein? Und als wäre es tatsächlich gefährlicher – Risikogebiete ausgenommen – seinen Urlaub in fremden Nationen zu verbringen.

Auch die Diskussion um Sterbefälle vs. Infizierte bekommt vor dem Hintergrund eine neue Dimension. Während auf unserer Erdhalbkugel während den warmen Monaten – ähnlich wie bei einer Grippe – die Todeszahlen seit Monaten stagnieren, stiegen die Infiziertenzahlen seit den Urlaubsrückkehrertestungen wieder rapide an. Dies verändert jedoch nichts an den Todeszahlen. Offensichtlich stecken sich im Urlaub vor allem junge Menschen an, denen das Virus nichts anhaben kann. Wir könnten damit aufatmen. Jeder, der sich aktuell ansteckt, trägt kaum eine Schuld, weil die Gefahr jemanden mit seinem Atem umzubringen gering ist. Daher greift hier auch nicht das Schuldempfinden im Falle einer gegenseitigen Ansteckung.

Und dennoch wird das Schuldempfinden in gewisser Hinsicht künstlich hochgehalten. Denn: Sobald ein Urlaubsrückkehrer seine Großeltern oder andere Menschen mit Vorerkrankungen besucht, könnte der eigene Atem wieder zu einer tödlichen Waffe werden. Der Wolf kommt nach Hause und frisst die Großmutter auf.

Wie wollen wir in Zukunft umgehen mit diesem Schuldgefühl? Sind wir wirklich die von Hobbes beschriebenen Wölfe, die einen Leviathan brauchen? Benötigen wir einen starken Staat, für den nicht mehr gilt "unschuldig, bis dass die Schuld zweifelsfrei bewiesen ist", sondern einen Staat, der uns Menschen stattdessen als Gefahrenquelle vorverurteilt? Oder lernen wir, selbstverantwortlich mit diesem und allen weiteren Viren, die da kommen mögen, umzugehen?

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Hübler

Coach, Mediator, Organisationsentwickler, Autor

Michael Hübler

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