Meinungsfreiheit mit Konsequenzen

Corona Wie steht es aktuell mit der Äußerung kritischer Meinungen?

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Die freie Meinungsäußerung ist in unserem Land ein hohes Gut. Vor dem Hintergrund des Infektionsschutzes stellt sich jedoch die Frage, ob wir dieses Gut bereits zum Teil verloren haben.

Aktuell gibt es zumindest einen Basketballspieler, der aufgrund seiner Teilnahme an einer Demonstration suspendiert wurde. Wir haben Selbstständige, die insgeheim gegen die Maßnahmen sind und hinter den Demonstrationen stehen, es sich jedoch nicht erlauben können, ihre Meinung kund zu tun, weil sie Angst davor haben, Kunden zu verlieren, die anderer Meinung sind. Wir haben den viralen Mob, der Impfgegner als Mörder beschimpft und Demonstranten wünscht, sie würden sich mit dem Virus anstecken und anschließend im Krankenhaus abgewiesen werden. Es gibt Kinder, die wegen einer kritischen Meinung in der Schule von ihren Freunden geschnitten werden. Und wir haben denunziantisch begabte Kollegen, die kritische Äußerungen in sozialen Netzwerken oder gar die Teilnahme an einer Demonstration an die Personalabteilung weiterleiten, was dort ebenso zu der ein oder anderen Konsequenz führt.

Niemand, der eine kritische Meinung äußert, muss befürchten, abgeführt zu werden. Außer bei extremen Fällen, in denen der Staat aufrührerische Tendenzen befürchtet wie beispielsweise bei Anselm Lenz, dem Herausgeber der Berliner Zeitung „Nicht ohne uns“ oder der Anwältin Beate Bahner, die zu einer Demonstration im April und damit zum Verstoß gegen das Infektionsschutzgesetz aufrief und in Folge ein paar Nächte in psychiatrische Gewahrsam kam. Für den Rest der Bürger und Bürgerinnen, die zu keiner Straftat aufrufen, gilt: Wir dürfen unsere Meinung sagen. Nur zieht diese Meinungsäußerung Konsequenzen nach sich. Und damit müssen wir offensichtlich in diesen Zeiten leben.

Ängstliche Selbständige bleiben daher lieber unter dem Radar der Sichtbarkeit. Der Autor bekam im Laufe der Krise regelmäßig Post von befreundeten Menschen, die sich bedankten und gleichzeitig äußerten, dass sie es es sich nicht leisten könnten, ihre Meinung dergestalt zu äußern. Es handelt sich dabei nicht um viele Menschen, etwa um zehn Personen. Dennoch gilt die Devise: Füße still halten, um keine Nachteile zu erleiden.

Andere Menschen erfahren aktuell, wie durchdringend Big Data sein kann. Jede Spur, die wir im Internet, insbesondere auf Facebook hinterlassen, kann und wird vermutlich analysiert werden. Die USA sind uns hier bereits wie immer weit voraus. Wer in die USA einreisen will, wird zuvor gescannt, wie Christoph Kucklick in „Die granulare Gesellschaft“ schreibt. Die Heimatschutz-Behörde untersucht Adresse, Kontobewegungen, Ticketkauf, Führerschein, Daten über frühere Flüge oder Essensgewohnheiten, um daraus eine Risikozahl zu errechnen. Ist die Zahl zu hoch, erfolgt mindestens eine Gepäckkontrolle. Wir befinden uns damit wie in vielen anderen Fällen auch, beispielsweise der Vorhersage von Straftaten oder der Rückfälligkeit von Entlassenen, nicht mehr in Modus, den Bürgern mit Vertrauen zu begegnen und anschließend eventuell aufgetretene Vorkommnisse im Sinne unseres „unschuldig, bis die Schuld bewiesen ist“ aufzuarbeiten, sondern im Modus einer möglichst lückenlosen Überwachung – man nennt es Präventionsstaat – und damit einem stetigen Misstrauen gegenüber dem Bürger. In Europa sind wir noch nicht ganz so weit, auch wenn hier die Gesundheits-Apps und Kameraüberwachungen in den letzten Jahren drastisch zugenommen haben. Dennoch stößt das Infektionsschutzgesetz in dasselbe Horn: Better safe than sorry.

Wenn wir nun noch einmal zurück kommen zu den Einstiegsbeispielen zeigt sich, dass eine Meinungsäußerung noch keine Infektion ausmacht. Und selbst die Teilnahme an einer Demonstration beweist noch nicht, dass der oder die Teilnehmende eine Gefahr für die Gesellschaft ist. Auch ein Impfgegner ist noch kein Mörder. Stellen wir uns vor, ein kritischer Bürger war auf einer Demonstration, hielt den Abstand ein, das sollte bei etwa 20.000 Menschen in Berlin durchaus möglich gewesen sein. Er könnte sich sogar am Rand des Geschehens aufgehalten haben. Zudem gab es Bilder von Demogängern mit Mundschutz. Selten, aber es gab sie. Gilt nun die Unschuldsvermutung oder nicht?

Der virale Mob kennt keine Gewaltenteilung. Grundsätzlich gibt es die Legislative, die Gesetze erlässt, die von der Judikative auf ihre Grundgesetztauglichkeit geprüft und anschließend von der Exekutive umgesetzt werden. Die Digitalisierung führte uns Bürger in eine dauerhafte Bewertungsgesellschaft. Bei Katzen- und Urlaubsbildern mag es sinnvoll sein, Likes zu verteilen und damit zu bestimmen, wer „recht“ hat und wer nicht. Sagen wir, ein Bild mit 10 hochgereckten Daumen besitzt eine höhere Berechtigung im Netz als ein Bild mit 8. Ein Bild ohne Daumen interessiert scheinbar niemanden. In der Krise durfte der Autor allerdings die Erfahrung machen, dass manche ignorierten Artikel und Äußerungen von einigen Menschen durchaus gelesen wurden. Es wurden jedoch keine Daumen verteilt. Warum? Sie ahnen es.

Was bei harmlosen Bildern sinnvoll erscheint, artet bei politischen Äußerungen in einen Kampf aus. Anscheinend gilt die Assoziationskette: Meinungsäußerung = Beeinflussung anderer = Erhöhung der Infektionszahlen = Erhöhung der Todeszahlen. Wer jedoch in die Szenerien deutscher Biergärten, Parkanlagen und Seenlandschaften blickt, müsste diese ähnlich ahnden wie den Besuch einer Demo – ähnlich der offiziellen Ächtung von Flugreisen. Genau genommen sind vermutlich – der Autor ist Sozialwissenschaftler und kein Virologe – Privatfeiern, insbesondere Hochzeiten, gefährlicher als jede Demo und jeder Biergartenbesuch, weil sich dort junge mit alten Menschen in einer Fröhlichkeit treffen, die jeden Spuckschutz überwindet, insbesondere wenn wir uns die Paradoxie vor Augen führen, dass in Momenten der Ferne eine Maske getraqen wird, die im Moment des Essens, wenn wir 30 Zentimeter voneinander entfernt sitzen, flugs abgenommen wird. Selbst die Fröhlichkeit wurde politisch, seitdem die Aerosole lachender Menschen untersucht werden. Ein Lächeln geht, aber Lachen? Gleichzeitig fördert Lachen unser Immunsystem. Es ist kompliziert.

Ein perfekter Algorithmus würde all diese Daten verarbeiten und uns mittteilen, was gut für uns ist und was nicht: „Sie befinden sich in einem Superspreader-Event. Bitte halten Sie Abstand.“ Und: „Sie haben heute noch zu wenig gelacht. Bitte besuchen Sie eine Comedy-Show.“ Oder: „Heute schon meditiert? Ein wenig psychischer Abstand von der Welt würde Ihnen gut tun.“ Aber wollen wir das? Eine solche App erinnert doch zu sehr an Juli Zehs Roman „Corpus delicti“. Andererseits bewerten wir ohne einen solchen Super-Gesundheits-Algorithmus unsere Mitmenschen aufgrund einer unklaren Datenlage als Schlafschafe oder Covidioten. Wie respektvoll wir Menschen doch miteinander umgehen.

Fakt ist: Mit jeder neuen Studie über Übertragungswege, Superspreader und einer möglichen Immunität erkennen wir, wie wenig wir in Wirklichkeit wissen. Vielleicht kommen wir eines Tages darauf, dass Menschen, die ohnehin ein nerdiges Dasein fristen, vollkommen harmlos sind und sich daher frei bewegen dürfen, während sozial Umtriebige eingesperrt werden sollten. Noch so eine Paradoxie.

Das Virus gleicht einem Scheinriesen. Je näher wir ihm kommen, umso ungreifbarer wird es. Dass damit Unsicherheiten einher gehen ist verständlich. Wie erleichternd wäre es, könnten wir das Virus beherrschen und kontrollieren. Das Virus ist jedoch ein höchst faszinierendes Lebewesen, das mit seinem Umfeld interagiert. Es wirkt offensichtlich bei jedem Menschen ein wenig anders: Die meisten bemerken es nicht einmal. Bei Menschen mit Vorerkrankungen ist es hochgradig gefährlich. Andere bekommen einen leichten Husten. Manchen leiden an Spätfolgen, andere nicht. Manche bekommen, laut neuesten Studien einen Schluckauf, andere nicht. Manche verlieren ihren Geschmackssinn, wie bei anderen Grippeviren auch. Andere nicht. Ist das Virus gefährlich? Hier gilt wohl der Lieblingsspruch von Juristen: Es kommt darauf an. Auch das werden wir irgendwann einmal wissen.

Bis dahin wären wir gut beraten, nicht aus jeder Meinungsäußerung einen geplanten Mord abzuleiten und gleichzeitig nicht jede Vorsichtsmaßnahme als dumm zu verurteilen. Immerhin sitzen wir alle im selben Boot. Sowohl die Politiker als auch die Mediziner und noch mehr die Experten in den Talkshows wissen oftmals genauso wenig wie die Bevölkerung. Wahrheiten existieren im Reagenzglas. Die Welt dort draußen ist jedoch komplex und das Virus verhält sich offensichtlich in Südeuropa anders als in Nordeuropa und in den USA und Brasilien anders als in Russland. Liegt es am Klima oder an den Genen der Menschen? Am Ende sogar an der Hautfarbe oder dem in manchen Netzwerken diskutierten Favismus? Und wie wirkt eine RNA-Impfung? Greift sie wirklich in unsere Gene ein oder nicht? Und was passiert, wenn lediglich, wie der "Impf-Experte" Bill Gates sagt, 60% der Geimpften tatsächlich immun sein werden? Bleiben dann Abstands- und Maskenpflicht bestehen? Eines Tages werden wir es wissen und damit eine höhere Gewissheit bekommen, welche Maßnahmen sinnvoll waren und welche nicht.

Bis dahin sind wir auf Gedeih und Verderb miteinander verbunden und sollten lernen miteinander auszukommen. Mit Respekt vor den Lebenslagen und Ängsten der Gegenseiten.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Hübler

Coach, Mediator, Organisationsentwickler, Autor

Michael Hübler

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