Heterogene Demonstranten

Demonstrationen Was bewegt die Demonstranten gegen die Corona-Maßnahmen?

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Der Soziologe Gerhard Hanloser schreibt in seinem Artikel für den Freitag „Hippster sind es wohl nicht“: „Müssten sich die Demonstrierenden auf einen Gesellschaftsentwurf einigen, wäre heilloses Hauen und Stechen angesagt.“ Damit trifft er den Nagel wohl auf den Kopf. Auch die Beobachtungen und Gespräche des Autors mit Demonstrierenden auf kleineren Demos in Nürnberg zeigt: Hier scheint alles vertreten zu sein:

Die ältere Dame mit Wackersdorfbiografie.

Menschen, denen Gesundheit am Herzen liegt, beispielsweise Ernährungsberater.

Veganer, Vegetarier und Homöopathie-Anhänger.

Der Enddreißiger mit einem Opa, der im KZ war.

Menschen mit DDR-Erfahrungen.

Der gut situierte Mit-50iger im Casual-Look.

Der Ex-SPDler mit Grundgesetz in der Hand.

Jung- und Alt-Hippies mit Schildern auf denen „Love ist the Answer“ steht oder „Permakultur“.

Etwas klischeehaft füllige Reichsbürger. Die Flagge lassen sie zuhause. Auf kleineren Demos lassen sie sich leichter unterbinden.

Laut Antifa stadtbekannte rechte Agitatoren.

Menschen, die aufgrund ihrer Kostüme entweder zu einer Faschingsveranstaltung, in die Psychiatrie oder auf eine Hygienedemo passen. Hier gilt wohl frei nach Mark Twain: Der Wahnsinn hält sie bei Verstand.

Und nicht zu vergessen eine große Menge an einfach nur normalen Menschen, die laut eigenen Aussagen vor Corona mehrheitlich auf kleiner Demo waren.

Was passt hier noch zusammen? Eigentlich nur, dass all diese Menschen gegen die Maßnahmen demonstrieren. Manche gegen die Unverhältnismäßigkeitim Vergleich zum Umgang mit anderen Krankheiten und Risiken. Andere gegen Phantome wie das Chipen. Gegen 5G. Gegen einen Impfstoff, der in Windeseile hergestellt und verbreitet werden soll. Gegen die zionistische Weltverschwörung – die darf freilich nicht fehlen. Oder gegen die Paradoxie, dass größere Kulturveranstaltungen verboten sind und das Reisen eng auf eng im Flugzeug hingegen nicht. Und natürlich schwebt über allem die Frage, wer in diesem Land eigentlich systemrelevant ist und wer nicht. Die Frage, um was es alles geht, scheint dem Autor falsch gestellt zu sein. Die Frage sollte treffender lauten: Worum geht es nicht?

Ohne bei all diesen Themen hier in die Tiefe zu gehen, bleibt festzuhalten, was der Kabarettist Florian Schröder subversiv-satirisch anmerkte: Steckt nicht in jeder Wahrheit ein Stück Wahnsinn und in jedem Wahnsinn ein Stück Wahrheit? Die Frage ist nur, wie viel Wahnsinn steckt in unseren Experten und Politikern und wie viel Wahrheit steckt hinter den Ängsten und Forderungen mancher Demonstranten?

Dass die Betroffenheiten so vielfältig sind, verwundert kaum. Wir leben seit März in Deutschland und nach und nach auf der ganzen Welt in einem Ausnahmezustand. Und vermutlich sind die Betroffenheiten noch wesentlich komplexer, als uns dies auf den ersten Blick erscheint. Geht es denn wirklich um die Maßnahmen? Oder nicht viel mehr um tiefere Veränderungen unseres Lebens, dessen Vorboten Corona und Maßnahmen lediglich sind, sozusagen die Apokalyptischen Reiter?

Im Herbst laufen Kurzarbeitprogramme aus? Werden sie neu aufgelegt oder nicht? Wird sich die Wirtschaft erholen oder nicht? Twitter verkündete bereits ein Recht von Homeoffice auf Lebenszeit und Siemens zog kurze Zeit später nach. Die Universitäten haben sich auf die digitale Lehre im nächsten Semester eingestellt. Und Veranstalter großer Events wissen immer noch nicht, was in den nächsten Monaten passieren wird. Selbst Friseure werden sich fragen: Was passiert, wenn der Winter kommt und die Kundschaft nicht mit nassen Haaren unter der Haube auf der Straße warten kann?

Wer bisher vor einem Computer im Homeoffice saß oder sich das schon immer wünschte, um sich nicht mehr jeden Tag aus dem Speckgürtel in das Verkehrsgetümmel der Großstadt stürzen zu müssen, mag sorgenfrei in die Zukunft schauen. Für alle anderen sind Corona und die Maßnahmen ein Brandbeschleuniger sondersgleichen.

Genau so vielfältig wie das Auftreten der Demogänger sind deren Ängste. Sicherlich: Sich auf das Grundgesetz zu einigen oder gegen die Maßnahmen auf die Straße zu gehen, erscheint sinnvoll, um sich als Gruppe zu präsentieren und seine Schlagkraft zu erhöhen. Was einheitlich in der Wut gegen Merkel, Spahn, Drosten, Wieler, Söder, Lauterbach und Co. erscheint, wird in der Tiefensicht hochkomplex. Versuchen Medien diesen wilden Haufen auf einen Nenner zu bringen, müssen sie zwangsläufig scheitern.

Das spannende daran ist der Trend, den Christoph Kucklick 2014 in seinem Buch „Die granulare Gesellschaft“ beschrieb: Milieus lösen sich immer mehr auf. Heutzutage zählt der einzelne Mensch. Deshalb wird Werbung immer individueller. Du wirst diesen Elektro-SUV lieben, nicht weil du zum gut situierten Bürgertum gehörst, sondern weil du ein Mensch bist, der gerne Abenteuer erlebt und dem gleichzeitig die Umwelt am Herzen liegt.

Alles verschwimmt: Gutverdiener schauen Dschungelcamp aufgrund einer Komplementär-Faszination und Schlechtverdiener streichen sich Kaviar im Angebot aufs Baguette. Auch die Ableitung eines Milieus anhand optischer Merkmale erscheint kaum noch möglich oder sinnvoll: Wer gammlig umher läuft legt vielleicht keinen Wert auf Status. Geld kann er dennoch haben. Und wer sich schick anzieht, mag über das Geld verfügen, sich einen teuren Anzug leisten zu können. Was er sonst auf dem Konto hat, wissen wir nicht.

Wie lautet daher die Konsequenz? So schwer es auch fällt und die Berichterstattung unendlich schwierig macht: Es hilft nichts, Demogänger in Klassen, Gruppen oder Milieus einzuteilen. Szenen, in denen nackte Hippies Reichsbürger grüßen, als hätten sie vergessen, wer der andere früher war, wirken zwar grotesk, sind jedoch andererseits erhellend. Denn hier greift keine Zugehörigkeit mehr zu einer Gruppierung, sondern nur noch das blanke Individuum. Wenn jedoch über Milieus und Gruppen kaum noch einheitlich berichtet werden kann, da jeder Mensch seine eigenen biografischen Erfahrungen mitbringt, scheint die einzige Lösung zu sein, die Berichterstattung zu individualisieren, um für die Verständnis aufzubringen, wofür wir Verständnis haben sollten und diejenigen zu kritisieren, die sich als Feinde einer Offenen Gesellschaft präsentieren.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Hübler

Coach, Mediator, Organisationsentwickler, Autor

Michael Hübler

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