Ich bin ja nicht für die Demos, aber ...

Corona Wie werden Anti-Maßnahmen-Demogänger in den Medien dargestellt, was wollen sie und wie könnte die Politik darauf reagieren?

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Seit Monaten gehen Menschen auf die Straße. Friedlich, aber dennoch wütend und hochgradig unzufrieden mit den Corona-Maßnahmen. Von diesem Phänomen der Regelmäßigkeit im gesamten Bundesgebiet ebenso wie rund um den Globus wurde seit einigen Wochen kaum noch in den Medien berichtet. Da muss es Unkennern der Materie maximal unverständlich erscheinen, dass gerade jetzt, wo der R-Wert wieder nach oben geht eine Großdemo in Berlin mit wievielen Menschen auch immer stattfand.

Wer sich die Interviews auf den Demos ansieht, findet einen Querschnitt durch die gesamte Gesellschaft: Da läuft die nette Familie mit Kind neben der etwas desorientierten Esoterikerin neben einem Reichskriegsflaggenträger neben dem jungen Studenten der sich selbst ein Bild machen wollte. Rein statistisch betrachtet – derzeit gibt es wohl etwa 10% AfD-Anhänger – wird diese Zusammensetzung einigermaßen passen. Der übliche Vorwurf hierbei lautet: Wer mit Nazis marschiert, bereitet den Boden für einen neonazistischen Umsturz.

Man kann die Kritiker alle in einen Topf werfen und als rechtsradikale Aluhutträger und Covidioten bezeichnen, wie es in den letzten vier Monaten praktiziert wurde. Die pragmatische Frage lautet jedoch: Was hat es gebracht? Wurden die Demos damit kleiner? Wurden die Menschen beruhigt? Einsichtig? Ließ sich die Kritik erfolgreich ignorieren? Offensichtlich nicht. Die Demos werden eher größer, wie Berlin zeigte. Und manche Demoveranstalter, die bisher darauf achteten, "sauber" zu bleiben, beginnen nun, aufgrund der mangelnden Resonanz in den Medien, sich mit weniger "sauberen" Demos zusammenzutun. An diesem Punkt stimmt vermutlich, was Dunja Hayali nach dem Besuch der Berliner Demo sagte: „Es ist eine gefährliche Melange.“ Wie gefährlich wird sich noch zeigen.

Gleichzeitig werden die Demos vielfältiger. Es gibt Motorraddemos gegen das angedachte Sonntagsfahrverbot oder Künstlerdemos, die die Krise besonders hart trifft. Und die Frustration wird vermutlich eher größer als kleiner, wenn die Maßnahmen anhalten oder sogar verschärft werden und die Lebensumstände einiger Menschen noch prekärer werden als bisher. Denn selbst wenn das Virus erfolgreich bekämpft wurde, bleiben die Folgen der Maßnahmen weiterhin bestehen.

Wären es die üblichen Verdächtigen, könnten sie vielleicht ignoriert werden. Obwohl: Das hat bereits bei Pegida nicht wirklich funktioniert. Hier sprechen wir allerdings nicht von einer kleinen Minderheit. In den Umfragen der letzten Monate zeigten sich stabile 30% der Bevölkerung als hoch unzufrieden mit den Maßnahmen. Gleichzeitig ist das Buch „Corona Fehlalarm?“ der Professoren Sucharit Bhakdi und Karina Reiss seit Wochen auf Platz eins der Spiegel-Bestseller-Sachbuch-Liste. Auch das lässt sich als Protest deuten. Können 30% Frustrierte langfristig ignoriert werden?

Kabarettisten machen sich lustig, Musiker verfassen Protestsongs und Schriftsteller schreiben Artikel oder Bücher. Doch wohin mit seiner Wut, wenn du nicht schreibst oder kritische Songs verfasst? Demos sind das Artikulationsinstrument der Fragenden und Frustrierten. „Soziale“ Plattformen im Netz erscheinen hierzu wenig geeignet und führen eher zu noch mehr Frust und gegenseitiger Hetze. In einer Welt, in der wir zwar die Möglichkeit haben, kritische Meinungen zu äußern, diese jedoch postwendend angegriffen werden, bieten Demos frustrierten Menschen eine Art Geborgenheit, die teilweise sogar an religiöse Veranstaltungen erinnert. Während der Riss zwischen Befürwortern und Kritikern der Maßnahmen bereits durch viele Familien geht, von Freundschaften ganz zu schweigen, würde ein Verbot von Demos diesen Menschen die letzte offiziell erlaubte Möglichkeit nehmen, sich unter Gleichgesinnten zu treffen, ohne angegriffen zu werden.

Was jedoch wollen die Demogänger? Ihrem Frust Luft machen? Ihre Freiheit zurück haben? Die Regierung stürzen? Oder machen sie sich am Ende Sorgen um unsere Zukunft? So bunt wie das Bild der Demonstranten ist, so bunt sind auch die Forderungen. Und das macht es in der Tat schwierig. Während Markus Söder im Sommerinterview sagte, man solle sich auch geistig von Corona-Leugnern fernhalten, könnte ein anderes politisches Ziel lauten, das zumindest Michael Kretschmer zeitweilig verfolgte, auf Kritiker – denn nicht jeder Demogänger ist ein Leugner – zuzugehen, um herauszufinden, was diese wollen und damit die Egoistischen von den Sorgenvollen zu trennen. Immerhin geht eine italienische Studie davon aus, dass eine Vielzahl der Übersterblichkeitstodesfälle nicht auf Covid19 zurückgeht, sondern auf die Maßnahmen des Lockdowns: Menschen brachten sich oder andere um, starben an Einsamkeit, weil die Pflegekräfte nicht mehr kamen oder an aufgeschobenen Operationen. Und was passiert mit einem Künstler, Kneipen- oder Kinobesitzer, der alles verliert, was er sich in den letzten Jahrzehnten aufbaute? Jenseits obskurer Ideen finden sich bei 30% der Menschen auch einige, die sich ernsthafte Sorgen um die Folgen der Maßnahmen machen.

Viele machen sich zusätzlich Gedanken um unsere Gesellschaft? Wie gehen wir mit Gesundheit um? Derzeit wird Gesundheit beinahe nur körperlich definiert. Doch auch die körperliche Gesundheit wird unterschiedlich gefördert. In italienischen Zügen wird beispielsweise dafür geworben, mehr Fahrrad zu fahren, um das Immunsystem zu fördern. Und wie fördern wir andererseits unsere psychische Gesundheit und damit Abwehrkräfte gegen Krankheiten? Während unlängst Achtsamkeitsübungen unter Managern schon beinahe als hip galten, wird die psychische Gesundheit aktuell wieder in die esoterische Ecke gestellt als wäre das Leben ein Amazon-Algoritmus: Wer Achtsamkeitsübungen praktiziert ist gleichzeitig ein Impfgegner und glaubt daran, dass Bill Gates uns chippen will.

Oder: Wie sehr leiden unsere Kinder? Aktuell gibt es eine Regelung, die besagt, dass infizierte Kinder in Familien separiert werden sollen, was der Deutsche Kinderschutzbund heftig kritisiert.

Oder: Wie fördern wir eine echte Solidarität in unserer Zivilgesellschaft, ohne abweichende Meinungen zu unterdrücken? Vor dem Hintergrund dessen, was der Herausgeber dieser Zeitung Jakob Augstein vor einigen Wochen den Absolutismus des Virus nannte, sind wir von Diskussionen im Sinne einer Offenen Gesellschaft derzeit meilenweit entfernt. Das ist schade, denn Kritik muss nicht bedeuten, die Regierung stürzen zu wollen, sondern kann auch aus dem Bedürfnis kommen, es beim nächsten mal besser machen zu wollen. Der Absolutismus des Virus führt jedoch dazu, psychosoziale Aspekte, wie sie beispielsweise aus dem Ethikrat zu hören sind, weitgehend auszuklammern. Stößt Kritik jedoch nicht eine Resonanz, in der auch politische Fehler eingeräumt werden, was eher ein Zeichen von Stärke als Schwäche ist, steigt die Skepsis in verrückte Höhen und fördert die Idee eines außerparlamentarischen Untersuchungsausschusses.

In der Realität haben immer beide Seiten recht: Ja, das Virus existiert – auch wenn es manche leugnen – und ja, die Maßnahmen führten bereits zu Schäden, die anerkannt werden wollen, damit sie akzeptiert werden können.

Aktuell taucht in meinem Hörfeld regelmäßig ein neues Narrativ auf: „Ich bin ja nicht für die Demos, aber ...“ Ohne Akzeptanz von und Resonanz auf Kritik wird die Spaltung, die sich bereits jetzt durch zahlreiche Freundschaften, Familien und die gesamte Gesellschaft zieht, weitergehen. Die Demos werden nicht abbrechen. Und je länger es keine echte, politische und mediale Resonanz auf eine ernsthafte (!) Kritik gibt, desto tiefer werden die Wunden.

Auch wenn es anstrengend ist, aber miteinander zu sprechen, neugierige Fragen nach den Sorgen des Gegenübers zu stellen und sich gegenseitig zuzuhören stünde nicht nur Politikern gut zu Gesicht, sondern uns allen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Hübler

Coach, Mediator, Organisationsentwickler, Autor

Michael Hübler

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