Korruption als Teil des Kapitalismus

Systemsprenger Warum die Industrie Angst vor Basisdemokratie hat

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In der hegelschen Dialektik ist alles miteinander verbunden. These und Antithese. Ein Beispiel: Eigentum und Diebstahl sind zwei Teile eines sich gegenseitig ergänzenden Systems. Sozusagen Yin und Yang. Wer Eigentum anhäuft, erschafft materialistisch die Möglichkeit, dass ein Dieb etwas stehlen könnte. Beide verfolgen jedoch die gleichen gesellschaftlichen Prinzipien. Sie erkennen beide den Wert des Materialismus an. Beide sind Kinder des Kapitalismus. Diebstahl ansich stützt also das System. Diebstahl ist die Ausnahme von der Regel, die es braucht, um die Regel zu bestätigen, dass der Besitz von Eigentum erstrebenswert ist. Auch wenn sie den Akt der Eigentumsaneignung unterschiedlich auslegen. Doch wie sagte schon Bertolt Brecht treffend: Was ist der Einbruch in eine Bank gegen das Gründen einer Bank?

Durch die dialektische Brille lassen sich sehr viele Systeme betrachten. Nehmen wir den aktuellen Korruptionsskandal der CDU/CSU. Auch hier wird das kapitalistische System bestätigt. Deshalb ist Korruption weniger schlimm als die Offenlegung von Lobbyismus. Sowohl Korruption als auch Lobbyismus fußen auf der Anerkennung geltender gesellschaftlicher Spielregeln. Ähnlich wie im Falle des Diebstahls dient Korruption zynisch betrachtet der Bestätigung eines funktionierenden Systems. Die Regeln des Kapitalismus werden anerkannt. Das System ansich wird nicht in Frage gestellt. Die moralische Verwerfung besteht also lediglich darin, ein wenig über das Ziel hinaus geschossen zu haben.

Ein Korruptionsskandal wirkt folglich auf einer oberflächlichen Ebene empörend. Die schwarzen Schafe müssen sofort entfernt werden. Auf einer tieferen moralischen Ebene wirkt er beruhigend. Der Kapitalismus als System der Geldmache wird ja nicht als solcher kritisiert, sondern lediglich seine extremen Auswüchse. Der Korruptionsskandal zeigt uns, dass es sich lohnt, seinen Einfluss geltend zu machen. Ein Politiker, bislang sind nur Männer bekannt, der sich bereicherte, wird lediglich gezwungen, aus der Fraktion auszutreten. Sowohl sein Bundestagsmandat und damit sein laufendes Gehalt als auch das verdiente Geld kann er behalten. Die Nachricht lautet: Der Aufschrei ist groß. Aber es lohnt sich. Das kapitalistische System funktioniert.

Auch der Schummler in einem Brettspiel erkennt die Regeln des Spiels an, nutzt sie jedoch gezielt für sich aus. Würde er die Regeln nicht anerkennen, würde er gleich zu Beginn über neue Regeln diskutieren. Es gibt solche Leute, die ziemlich anstrengend sein können. Nennen wir sie Systemsprenger, wie in dem gleichnahmigen Film von Nora Fingscheidt.

Ein System zu sprengen würde bedeuten, wirklich etwas zu verändern. Bei Hegel wäre dies die Synthese als Aufbruch der dialektischen Verknüpfung zwischen einem Prinzip (Kapitalismus) und dessen extremen Auswüchsen (Korruption), um zu etwas Neuem zu kommen. Kein Wunder, dass der Widerstand gegen ein Grundeinkommen so groß ist. Das Grundeinkommen scheitert nicht nur an einem negativen Menschenbild, sondern stellt zudem zentrale Prinzipien des Kapitalismus in Frage. Auch die Aufdeckung von Nebeneinkünften sind gefährlich, die Veröffentlichung eines Lobbyistenregisters oder Geldflüsse und der Einfluss von Stiftungen auf staatliche und wissenschaftliche Einrichtungen.

Auf einer anderen Ebene der Systemsprengung greifen Prinzipien der Basisdemokratie das System der stellvertretenden Demokratie frontal an. Während die Grünen früher selbst das Prinzip der Basisdemokratie verfolgten, wurde dies auf dem letzten Parteitag von der Parteispitze vehement abgelehnt. Die Grünen bleiben damit dem Prinzip der stellvertretenden Demokratie eng verbunden und rücken auch mental einer Koalition mit der CDU/CSU immer näher. Es ist dennoch kein Wunder, dass gerade der Punkt der Basisbeteiligung als Symbol für die zukünftige Ausrichtung auf dem letzten Parteitag der Grünen so emotional diskutiert wurde. Während die Grünen nach ihren Anfängen in den 80er Jahren eine systemsprengende Rolle im Parlament übernahmen, sind sie mittlerweile tief verankert im System des (grünen) Kapitalismus. Wenn überhaupt wird diese Rolle in Zukunft von anderen Parteien eingenommen. Eine Partei wie die Basis-Partei, die aus dem Umfeld der Demonstrationen gegen die Verhältnismäßigkeit der Anti-Corona-Maßnahmen entstand, trägt bezeichnenderweise bereits symbolisch den Begriff der Basisdemokratie (Stichwort: Schwarmintelligenz) im Namen.

Während Basisdemokratie in der 80er Jahren jedoch links war, gilt dies nun in der öffentlichen Wahrnehmung als rechts oder zumindest als populistisch, siehe die 5-Sterne-Bewegung in Italien oder den Brexit. Neutral betrachtet stellt eine höhere Beteiligung des Volkes erst einmal das aktuelle System in Frage und wird damit zu einer systemsprengenden Bedrohung, die mit aller Macht bekämpft werden muss. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass Basisdemokratie von rechten Demagogen genutzt werden kann, wie uns das aktuelle Burka-Verbot in der Schweiz zeigt.

Dabei stellt sich die Frage, ob die stellvertretende Demokratie letztlich besser zum Prinzip des Kapitalismus passt als eine Basisdemokratie. Basisdemokratische Bestrebungen verfolgen das Ziel mündiger, mitbestimmender Bürger:innen. Hier gehe ich nicht von einfachen Ja/Nein-Abstimmungen aus, sondern von einer echten Beteiligung in politischen Prozessen. Kann eine kapitalistische Industrie, die darauf angelegt ist, etwas zu verkaufen, von dem Büger:innen noch gar nicht wissen, dass sie dies brauchen, die Entwicklung mündiger Büger:innen gut heißen? Am Ende würden Büger:innen realisieren, dass sie sich das, was sie brauchen, um glücklich zu werden, gar nicht kaufen können, während sie sich stattdessen mehr Autonomie und Mitbestimmung im Leben wünschen. Laut der Erkenntnisse der positiven Psychologie sind dies genau die Punkte, die Menschen glücklich machen. Ob dies in der Politik sein muss, ist jedoch nicht gesagt. Immerhin gibt es auch die Tendenz, "die da oben machen zu lassen", während wir unser Leben leben.

Während die Beteiligung der Bürger:innen in politischen Prozessen durch Entscheidungen in Brüssel oder Expertokratien gefühlt immer weniger werden – immerhin werden Expert:innen, Stiftungsvertreter:innen oder Lobbyist:innen nicht gewählt – und dadurch die Unzufriedenheit zunimmt, nehmen basisdemokratische Prinzipien (Stichwort: New Work) in Unternehmen zu, was zu einer höheren Identifikation mit dem Unternehmen führt. Vielleicht hängt auch dies dialektisch zusammen. Dennoch wäre es für die Stimmung im Land überlegenswert, das Kind der Basisdemokratie nicht mit dem Bad des vorauseilenden Rechtsruckverdachts auszuschütten, sondern im Sinne einer Synthese gut zu überlegen, wie die Beteiligung der Bürger:innen in Parteien oder dem gesamten demokratischen System genutzt werden kann, um die Politikverdrossenheit zu verringern und die Identifizierung der Bürger:innen mit diesem Land wieder zu erhöhen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Hübler

Coach, Mediator, Organisationsentwickler, Autor

Michael Hübler

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