Die letzten Jahre des Realpolitikers

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Die letzten Jahre des Realpolitikers

'War jahrelanges Zeitungslesen
Letztlich doch umsonst gewesen?',
So fragt er sich denn eines Morgens
Nach all den Zeiten des Sich-Sorgens
Um das Wohl der Republik,
Als er wirft einen Blick zurück.

'Wurde wirklich etwas besser?
Wie oft ... nutzte ich das Messer,
Um zu teilen und zu herrschen?
... Rief ich auf zu langen Märschen
Durch so manche große Krise?
... Macht' ich aus 'nem Sturm 'ne Brise?

Er lässt sich nieder in den Sessel;
Auf der Herdplatt' summt der Kessel,
Der das Wasser bringt zum Sieden –
'Nen Kaffee für den Seelenfrieden.
Dazu gibt es – wie oft am Tag –
'Ne Zigarette ... weil er's so mag.

Bald dampfen Kaffee und die Kippe,
Die öfters hängt an seiner Lippe,
Als es ihm lieb, doch fällt's ihm schwer –
Versuchte er's auch noch so sehr –,
Zu reduzieren dieses Laster ...
Doch nimmt er's leichter, nimmt's gefasster.

Gefasst ist auch sein Weltenbild,
Im Geiste mag er's nicht so wild;
Visionen sind für ihn ein Grund,
Dass man nicht sei so ganz gesund.
Wer visionär die Welt will seh'n,
Sollt' besser doch zum Doktor geh'n.

Er zieht und pafft, tut's Zug um Zug,
Danach ein Griff zum Kaffeekrug.
Ein leichtes Nippen, ein kleiner Schluck –
Da durchzuckt ein kurzer Ruck
Seinen sonst so stillen Geist,
Der häufig durch's Reale kreist.

'Was?', so schwirrt's ihm durch's Gehirn,
'Wenn Politik ist aus 'nem Zwirn
Zusamm'ngenäht und festgezurrt,
Dass, wenn mal etwas besser wurd',
Man immer auch sogleich abschaffte,
Das eigentlich so Wesenhafte
Dieser, jener Neuerung ...
Und letztlich blieb Verteuerung,
Weil's Bessere wohl immer schafft
Eine neue Gegenkraft.' …
'Ja, waren all die Kompromisse,
Letztlich doch nur Selbstbeschisse?
Oft sah es aus nach "Win-Win-Win",
Doch fehlte nicht der inn're Sinn?
... Und von der ganzen Sache blieb
Nur „All-Will-Lose“ als neuer Trieb?
Ja, war das Politik-Geschmiede
Letztlich voller Pyrrhussiege?
War das ganze Abgewäge
Letztlich doch nur Abgesäge
Anderer und oft eigener Äste?
Gefeiert wurden dann die Reste
Dieser und auch jener Ziele –
Ach, man hatte doch so viele ...
Nach dem Kriege, nach dem Sterben,
Sollt‘ so vieles anders werden –
Doch lag im Neuen oft verborgen
Die Struktur der alten Sorgen.'

Die Zigarette neigt sich nun
Dem Ende zu – er könnt' jetzt ruh'n,
Doch bevor die Glut sich senkt,
Er schon an die nächste denkt.
"Wie im Leben ...", seufzt er leise,
"Fügt's Rauchen sich derselben Weise –
Kaum ist eine kurz vorm Ende,
Nimmt das Leben eine Wende.
Und das Neue setzt alsdann
Kurz schon vor dem Ende an.
Probleme sind wohl letztlich das,
Was stets entsteht – ohne Unterlass.
Und seh' ich es realpolitisch,
Ist's Leben ja wohl immer kritisch."
Er lächelt mild, weil's war gelungen,
Dass ihm ein Geistesblitz entsprungen.
Und auf diesen still'n Moment
Er sich die nächste Kipp' anbrennt.

Dann qualmt er weiter wie bis eben.
'Ach, was war das für ein Leben?
Was wird mir an Nachruhm bleiben?
Was werden Schreiberlinge schreiben?
Was wird wohl steh'n in Lexika?
Und auf Wikipedia?'

So sinniert er vor sich hin,
Als suchte er des Lebens Sinn,
Doch stockt sein Denken immer wieder;
Dann legt er die Zig'rette nieder.
Er tut so als sei nichts gewesen ...
Und widmet sich dem Zeitungslesen.

Michael Winkler, Dresden, 2014

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Geschrieben von

Michael Winkler, Dresden

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