Was ist eigentlich Stottern?

Gesundheit & Co. .... Was ist Stottern? Was nicht? Was hat Edmund Stoiber damit zu tun? ... Und last but not least die Frage: kann jede/r stottern? ....

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion



Wenn man die Worte „Stoiber“ und „stottern“ bei Google eingibt, erscheinen mit Stand Anfang Juli 2014 knapp 30.000 Treffer. Dabei stotterte Edmund Stoiber gar nicht, sondern stammelte bestenfalls.


Stammeln oder Stottern?

Der Unterschied zwischen Stoibers Stammeln und einem Stottern ist vermutlich jener, dass der eine nicht weiß, was er sagen wollte und der andere, es nicht herausbekommt. Außenstehende können diesen Unterschied jedoch kaum sehen. Mit anderen Worten: Edmund Stoiber hatte Wortfindungsschwierigkeiten und stammelte, während Stotternde meist aus psychischen Gründen – da streiten sich die Experten noch und die Betroffenen häufig noch mehr – nichts herausbringen bzw. nur mit Sprechblocks, Silben- sowie Wortwiederholungen oder gar mit Bewegungen von Augen, Händen und Armen.

http://cdn4.spiegel.de/images/image-32213-panoV9free-bqsf.jpg

Edmund Stoiber - Stammelt er noch oder stottert er schon?
Bild: dpa - Quelle: Spiegel-Online

Ursachen des Stotterns

Auch wenn die Forschung vor einigen Jahren herausgefunden hat, dass bei Stotternden das sogenannte Rolandische Operculum* schwächer ausgeprägt ist, ist dennoch unklar, weshalb es bei manchen Stotternden zu Spontanheilungen kommt oder andere mal mehr, mal weniger stark stottern. Bei Kindern legt sich das Stottern auch häufig schon recht schnell oder nach einigen Jahren wieder.


Therapien und TV-"Wunder"

Zudem spielen die Medien eine nicht ganz unwichtige Rolle bei der Wahrnehmung des Stotterns. Vor einigen Jahren noch konnte man fast sicher sein, dass zweimal jährlich in irgendeiner Talk- oder Life-Coaching-Show direkt oder indirekt eine Stottertherapie vorgestellt bzw. vielmehr beworben wurde. Am besten schienen Therapien im Hypnoseverfahren zu laufen. Das Prinzip war simpel: der Stotternde wurde in einem abgeschlossenes Heilzentrum innerhalb von 10 Tagen „flüssig“ gemacht und fertig war das „Wunder“. Stotternde berichteten nicht selten davon, dass sie in den Tagen nach solchen TV-Sendungen im Freundes-, Bekannten- oder Kollegenkreis auf diese „neue“ Therapie aufmerksam gemacht worden sind.


Was hilft wirklich?

Dumm nur, dass es bei vermutlich 99% der vom Stottern Betroffenen funktioniert, sie in kurzer Zeit mittels Intensivtherapie "flüssig" oder zumindest sehr viel "flüssiger" zu bekommen. Doch nahezu ebenso häufig treten nach sechs bis zwölf Monaten im Alltagsleben Rückfälle auf – ähnlich dem Jojo-Effekt bei Diäten.
Durch mehrere solcher Crash-Therapien mit anschließenden Rückfällen geraten Stotternde häufig in eine Art Frustspirale und sind nach einigen Jahren „durchtherapiert“. Entweder entwickeln sie sich dann vollkommen zu seelischen Wracks, arrangieren sich einigermaßen mit ihrem Stottern oder lernen, was wirklich hilft: das Stottern als Teil von sich zu akzeptieren.


Stottern akzeptieren – nur wie?

Die theoretische Frage, inwieweit Stottern genetisch oder neurologisch bedingt bzw. beeinflusst ist, ist ansatzweise auch völlig irrelevant für die Praxis. Vorausgesetzt man lernt diesen scheinbaren Widerspruch zu akzeptieren, einerseits nichts tun zu können, weil die Genetik oder die neurologischen Parameter nunmal so sein können (wie bei anderen Personen erforscht), doch andererseits genauso vehement nach Möglichkeiten zu suchen, doch etwas tun zu können. Im Grunde ist die Beziehung zwischen einem stotternden Menschen und seinem (oder ihrem) Stottern ein bisschen wie eine unglückliche Liebesbeziehung. Einerseits muss das Leben ja weitergehen und andererseits will man/frau dennoch irgendwie irgendwas verändern. Nur was genau? Und wie?
Der Grat zwischen Verdrängung und Selbstzerfleischung ist dabei bekanntlich oft schmal – ganz gleich, ob Liebe oder Stottern. Dinge so zu akzeptieren, wie sie nunmal sind, auch wenn man sie nicht einmal ansatzweise versteht (und da helfen auch Dutzende Forschungsstudien oft wenig), bedarf vor allen Dingen Geduld und Selbstliebe sowie einer gehörigen Portion Selbsthumor. Vielleicht sind fehlende Selbstakzeptanz und mangelnder Selbsthumor auch ein Zeichen von Angst, der Angst vor sich selbst?


Die Angst vorm Stottern

Nicht wenige behaupten, dass das allergrößte Problem beim Stottern nicht das Stottern an sich sei, sondern die Angst davor. Verbunden damit sind oft soziale Ängste, die allen Menschen mal mehr, mal weniger innewohnen. Sich dessen bewusst zu werden, ist eine Mammutaufgabe, die nicht immer angenehm ist, doch meist unumgänglich. Für die Analyse wird in "Stotterkreisen" oft der sog. "Eisberg des Stottern" von Dr. Joseph Sheehan (1918-1983) herangezogen (Erklärung siehe Video am Ende des Artikels).
Manche meinen auch, wenn der Stotternde nicht wüsste, dass er stottert, würde er nicht stottern. Das verbindet Stotternde auch mit Nichtstotternden, denn die Angst vorm Sprechen, beispielsweise in der Öffentlichkeit oder vor großen Gruppen, ist in der gesamten Bevölkerung anzutreffen.


Was tun, wenn man stottert?

Die möglicherweise einfachste und zugleich wahrscheinlich auch schwierigste Therapie ist jene, dass es einem sozusagen egal wird, dass man stottert. Die dafür vermutlich effizienteste und zudem preiswerteste Methode ist das freiwillige Stottern, im deutschsprachigen Raum auch unter dem etwas verwirrenden Begriff „Pseudostottern“ bekannt. Nach dem Prinzip der Desensibilisierung stottert man bei alltäglichen Situationen – beim Bäcker, am Fahrkartenschalter o.ä. – absichtlich. Je stärker, desto effizienter. Der Effekt: man merkt, dass alles gar nicht so schlimm ist, denn die Reaktionen des oder der Gegenüber sind keineswegs so dramatisch wie erwartet. Diese Methode könnte vermutlich sogar bei Nichtstotternden funktionieren und zu mehr Lockerheit beim Sprechen führen. Wer Lust hat, probiert es einfach mal aus.


* Das Rolandische Operculum ist die Hirnregion, in der die Bereiche der Sprechplanung, Bewegung des Mundes (Rachens), Artikulation und Empfindung des Mund- und Rachenraumes miteinander verknüpft sind. (Quelle: www.stottertherapierategeber.de, Link inaktiv)


Eingebetteter Medieninhalt

Der Artikel wurde am 17.10.2019 aktualisiert und um den Abschnitt"Stottern akzeptieren – nur wie?" ergänzt.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Winkler, Dresden

Denkt wie er schreibt und schreibt wie er denkt.

Michael Winkler, Dresden

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden