Die Gesellschaft ist radikaler

Panoramablick über Russlands linke Flanke (II) Warten auf einen neuen Führer, der genug Statur und Programm hat, um auf der Höhe der Zeit zu sein

Im ersten Teil seiner Analyse der russischen Linken hatte sich Michael Deljagin im Freitag 24/06 mit der liberalen Jabloko-Partei, der linkspatriotischen Rodina sowie der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation (KPRF) beschäftigt, denen er trotz aller Opposition auch eine gewisse Kooperationsbereitschaft mit der präsidialen Administration attestierte. Besonders der KP warf er vor, jeder schon wegen der Überalterung der Mitgliedschaft gebotenen Erneuerung aus dem Weg zu gehen und sich statt dessen in internen Machtkämpfen zu verschleißen.

Die Ohnmacht und bürokratische Aggressivität der KP-Führung haben diversen linken Gruppierungen Räume verschafft - vorzugsweise die Avantgarde der Roten Jugend (AKM), die Union der Kommunistischen Jugend (SKM), Wiktor Tjulkins Russische Kommunistische Arbeiterpartei - Revolutionäre Partei der Kommunisten (RKRP) und Wiktor Anpilows Arbeitendes Russland (RR) sind angetreten, sie auszufüllen. Für sich genommen unendlich schwach, existieren sie dennoch und haben gelernt, politischen Einfluss geltend zu machen. Das gilt auch für die National-Bolschewistische Partei (NBP) Eduard Limonows, die 2004/05 den Protest gegen eine "Monetarisierung" bisheriger sozialer Vergünstigungen zu nutzen verstand, um sich aus einem extremistischen Haufen zu einer seriösen politischen Struktur zu mausern, deren an Zahl eher bescheidene Mitgliedschaft bis zur Selbstopferung kämpft. In der NBP findet sich der jugendliche Underdog aus den urbanen Randzonen ebenso wieder wie der um sein soziales Prestige gebrachte Pensionär. Auch wenn das der Partei wenig kreatives Potenzial beschert, in einer Zeit, da die Gesellschaft Protest braucht, träumt die NBP davon, einmal die absolute Speerspitze der Opposition zu sein. Limonow will aus Verzweifelung über die - wie er meint - "Nichtigkeit des Führungspersonals in der großen Politik" sogar mit dem ehemaligen Premierminister Kasjanow kooperieren. Zu schwach, selbst um die Macht zu kämpfen, unterstützt er jegliche Anstrengungen, die einem Regime-Wechsel Vorschub leisten.

Wie die NBP lieben es auch die anderen Gruppierungen, sich als "authentische Linke" zu präsentieren, die "alle gesunden Kräfte" vereine. Wer sich sonst als links bezeichne, sei pervers und opportunistisch.

Kagarlitzkis "Sturmwarnung"

Die ausgestellte Unversöhnlichkeit ist dabei nicht unbedingt Ausdruck von Idealen, sondern mehr ein Instrument im Konkurrenzkampf: Die Verteufelung anderer erleichtert die Suche nach Finanzquellen. Ergibt sich die Möglichkeit, Geld vom Kreml zu bekommen, nutzt man auch die mit unverhohlener Begeisterung, auch wenn damit die Unterwanderung droht.

Charakteristisch ist in dieser Hinsicht die im April 2006 vorgestellte Studie Sturmwarnung des ehemaligen Direktors des Instituts für Probleme der Globalisierung, Boris Kagarlitzki, in der alle bedeutenden Oppositionsparteien der Korruption bezichtigt werden, mit Ausnahme der dem Kreml nahe stehenden Liberaldemokraten (LDPR) Wladimir Schirinowskis und der Regierungspartei Einiges Russland, über die es heißt, sie sei nicht korrupt, sondern verfüge lediglich über "administrative Ressourcen".

Die Studie basierte auf Anschuldigungen in den Medien, deren Wahrheitsgehalt zu überprüfen kaum Anstrengungen unternommen wurden. So sah sich die KPRF mit dem Stigma der "am meisten korrumpierten Partei" versehen, während Rodina mit dem Zertifikat "am wenigsten korrumpierte Partei" davon kam. Die Studie entpuppte sich als Konzentrat erbitterter Verleumdungen, die besonders KP-Chef Sjuganow galten, dem unterstellt wurde, mit Yachten und Datschen ausgestattet zu sein, auch wenn er nichts dergleichen, sondern lediglich eine gewöhnliche Moskauer Stadtwohnung besitzt.

Der Präsidentenadministration und der Partei Einiges Russland gefielen selbstredend Kagarlitzkis Provokationen. Zur Belohnung wurde ihm zugesichert, während des bevorstehenden G-8-Gipfels in St. Petersburg ein "Sozialforum" abhalten zu dürfen. Russland kann damit demonstrieren, es ist bei uns "alles wie im Westen", sogar Globalisierungskritiker kommen zu Wort. Allem Anschein nach wird das Forum sogar vom Kreml finanziert. Genau wegen derartiger politischer Geschäfte wird das Wort "links" in Russland inzwischen häufig mit großmäuligen, unmoralischen Desperados in Verbindung gebracht.

Unter den Randfiguren gibt es auch solche, die keinen Anspruch auf eine politische Rolle erheben, etwa intellektuelle Klubs wie Alexander Busgalins Alternativen oder Netzwerke wie die Gruppe um den Rodina-Abgeordneten Oleg Schejin.

Kein Zweifel: In einem von der Stimmung her linken Russland sind die linken politischen Kräfte größtenteils handlungsunfähig, zersplittert und zuweilen gezwungen, sich für ihre Existenz zu entschuldigen. Hauptursache dafür ist der präventive Druck des Kremls. Ein Staat, der sich darüber im Klaren ist, dass eine entscheidende Herausforderung für die neue bürokratische Bourgeoisie von links kommen kann, tut alles, um die linke Flanke zu desorganisieren.

Doch ist die Schwäche der "Linken" neben aller diffusen Programmatik auch das Resultat einer "natürlichen Auslese" der neunziger Jahre: Die Möglichkeit der marktwirtschaftlichen Selbstverwirklichung ließ viele Linke zu Rechten werden. Dieser Trend änderte sich erst nach 1999, als mit dem Machtantritt Wladimir Putins die marktwirtschaftlichen "Sozialfahrstühle" nicht länger funktionierten. Seither werden energische, tatkräftige Menschen nicht weiter vom Markt gebraucht und kehren langsam auf die linke Flanke zurück, ohne wirklich in der Lage zu sein, den Radikalismus einer linken Stimmung in der Gesellschaft aufzunehmen.

Neuer "eiserner Vorhang"

Russlands heutige Linkspolitiker sind mehrheitlich aus den sowjetischen Staatsstrukturen oder dem sowjetischen Hochschulsystem hervorgegangen. Ihre Intelligenz und ihr relativ hoher Lebensstandard erlauben es ihnen nicht - auch wenn sie noch so intensiv das Land bereisen - das reale Leben der meisten Russen zu begreifen. Das Absinken der Lebensqualität in den meisten Regionen dank der liberalen Reformen bleibt ungeheuerlich. Nach Angaben des Lewada-Soziologie-Zentrums verfügen 15 Prozent aller Russen über Einkünfte, die sie zu einem Leben unterhalb des Existenzminimums zwingen. Bei 37 Prozent reicht das Geld für Lebensmittel, aber nicht für Kleidung; bei 38 Prozent für Nahrung und Kleidung, aber nicht für Haushaltstechnik. Während also der Staat an Petro-Dollars fast erstickt - die Goldvaluta-Reserven belaufen sich mittlerweile auf über 205 Milliarden Dollar -, gelten 13 Prozent der Bevölkerung als verelendet.

Wie ein neuer "eiserner Vorhang" trennt die Armut Russlands Bürger erneut von der Welt: Von 143 Millionen Russen haben lediglich neun Millionen einen Reisepass, den wiederum nur drei Millionen regelmäßig nutzen. Ausweglosigkeit, Isolation und ständiger Betrug lassen die Gesellschaft aggressiv werden: Der Ruf nach Gerechtigkeit ist in erster Linie einer nach Bestrafung der Reformer - die Forderung nach einer Rücknahme der Privatisierungen bleibt Dreh- und Angelpunkt populärer Stimmungen.

Erstarrt wartet Russland auf einen neuen linken Führer, der genug Statur hat, der Gesellschaft furchtlos gegenüber zu treten, und über eine Strategie verfügt, die das spontane Streben nach strafrechtlicher Vergeltung mit einer objektiv notwendigen Modernisierung in Übereinstimmung bringt.

Der Autor ist Direktor des Moskauer Instituts für Probleme der Globalisierung (IPROG).


Russlands "authentische" Linke

Partei / GruppierungGeschätzte Mitgliederzahl

Avantgarde der Roten Jugend (AKM)1.200 - 1.500

Union der Kommunistischen Jugend (SKM)1.000 - 1.200

Russische Kommunistische Arbeiterpartei (RKRP)850 - 1.000

Arbeitendes Russland (RR)600 - 800

Nationalbolschewistische Partei (NBP)1.000

Linksfront der Jugend (FLM)400

Konter-Oligarchische FrontKeine Angaben


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