Als Neil Armstrong am 21. Juli 1969 den „kleinen Schritt für einen Menschen“ auf den Mond machte, galt dies nicht allen als „großer Schritt für die Menschheit“. Im Gegenteil: In der Mondlandung sahen viele das Sinnbild einer aus den Fugen geratenen Welt. Was heute, zum 50. Jahrestag, einhellig als erfüllter Menschheitstraum bejubelt wird, wurde seinerzeit kontrovers diskutiert.
Zahlreiche Kommentatoren wiesen auf die Widersinnigkeit davon hin, den Weltraum erobern, nicht aber irdische Probleme wie Armut, Krieg und Umweltverschmutzung lösen zu können. In diesem Sinne beschrieb der New-York-Times-Kolumnist Anthony Lewis die Mondlandung als „Flucht vor unserer irdischen Verantwortung, die wie jede Flucht ein schlechtes Gewissen hinterlässt“. Sie war aber nicht nur politisch umstritten – kritisch sah man sie auch und gerade in der Philosophie. Das Vordringen ins All wurde hier zum Anlass, von Neuem über die „Stellung des Menschen im Kosmos“ nachzudenken.
Nach dem Schiffbruch …
So sah der Technikphilosoph Günther Anders in der Mondlandung ein spätes Echo der kopernikanischen Revolution, denn sie habe der Erde und ihren Bewohnern ihre „kosmische Provinzialität“ vor Augen geführt. Entscheidend sei nicht das Erreichen des Mondes gewesen, sondern der nur so mögliche Blick auf unseren Heimatplaneten als Ganzes wie auf ein fremdes Gestirn, schreibt Anders in seinem Buch Der Blick vom Mond von 1970.
Obzwar wir seit Kopernikus in abstracto gewusst hätten, dass die Erde nicht das Zentrum des Universums ist, sei es eine unerträgliche „Kränkung und Erniedrigung“ gewesen, sie wie eine „im Ozean des Raums schiffbrüchig herumschwimmende Boje“ nun auch zu sehen, glaubt Anders. In der unendlichen Weite des Alls erscheine die Erde unbeträchtlich und der auf ihr nicht zu erkennende Mensch erst recht belanglos. Trotz der fulminanten technischen Meisterleistung habe sich die am Fernsehen zuschauende Menschheit deshalb nicht als groß und erhaben, sondern als klein und erniedrigt erlebt.
Neben das Gefühl „kosmischer Minderwertigkeit“ tritt dabei für Anders eines der Beschämung durch die Technik. Das ist ein Gedanke, der Lesern seines Hauptwerks Die Antiquiertheit des Menschen von 1956 wohlbekannt ist: Der jederzeit zu exakter Befolgung technischer Prozeduren gezwungene Astronaut versinnbildliche, dass der Mensch in der modernen Gesellschaft längst ein Anhängsel der Maschinen sei. Seinen Erfindungen sei er nicht einmal mehr moralisch gewachsen. Denn eine buchstäblich kosmopolitisch gewordene Technik ermöglicht ihm zwar den Sprung zum Mond. Dort aber hisst er nicht die Fahne der Erde oder der Menschheit, sondern in „provinziellstem Lokalpatriotismus“ die seines Landes.
Hannah Arendt sorgte sich schon einige Jahre vor Anders, die Eroberung des Alls könne den Menschen und seine Heimstatt verächtlich machen. Während Enthusiasten den Ausbruch aus dem „Gefängnis der Erde“ bejubeln, beschreibt sie 1958 unter dem Eindruck der Sputnik-Krise in ihrem Hauptwerk Vita activa die gerade beginnende Raumfahrt als „Rebellion des Menschen gegen sein eigenes Dasein“. Denn wer von der Erde ausbrechen will, sieht sie als Ort, der würdig ist, verlassen zu werden – und würdigt damit auch die menschliche Existenz als solche herab, deren „Quintessenz“ für Arendt die irdische Natur ist. Die Raumfahrt ist für sie der avancierteste Ausdruck der Bestrebung, die Natur mit Hilfe von Technik und Wissenschaft durch eine menschengemachte Kunstwelt zu ersetzen.
… sind wir alle Ratten
Das ähnelt dem, was totalitäre Regime tun, wenn sie in ihrer Propaganda Elemente der Realität zu einer neuen, künstlichen Wirklichkeit kombinieren, die die alte Realität verdrängt. Totale technische Überformung der Welt macht auch vor dem Menschen selbst nicht halt, wie Arendt 1963 in Die Eroberung des Weltraums und die Statur des Menschen ergänzt. Dass wir durch den Weltraum reisen können, verdanke sich einer Wissenschaft, die gelernt hat, „die Natur von einem außerhalb der Erde im Universum liegenden Punkte zu meistern“. Indem wir auf Erden Prozesse wie im Inneren der Sonne entfesseln, meint Arendt, verhalten wir uns längst wie „erdgebundene Wesen, die handeln, als seien sie im Weltall beheimatet“.
Doch in der Optik des „archimedischen Punktes“ sei der Mensch kein mit Würde und Freiheit begabtes Wesen mehr. Aus dem All betrachtet würde er vielmehr bloß als „Spezialfall organischen Lebens“ erscheinen, als bloßes Tier, dessen Verhalten mit denselben Methoden studiert werden könne, mit denen man das Verhalten von Ratten studiere. Die Raumfahrt, schreibt Arendt, erhöht die „Stellung des Menschen im Kosmos“ nicht, sondern droht sie zu zerstören: „Der Mensch kann in der Weite des Universums nur verloren gehen.“
Die auf dem Höhepunkt der Weltraumeuphorie geschriebenen Texte von Anders und Arendt wirken heute fremd, ihre Sorgen übertrieben. Dass sie sich wie aus der Zeit gefallen lesen, mag daran liegen, dass die Raumfahrt bald viele der in sie gesetzten Hoffnungen enttäuschte – und sich so auch viele Ängste als unbegründet erwiesen.
Hans Blumenberg kann daher auch in seiner Genesis der kopernikanischen Welt (1975) argumentieren, die Exploration des Alls führe zu einer Rückbesinnung auf die Einzigartigkeit der Erde und ihrer Bewohner. Denn im Rückblick aus dem All habe sich die Erde als „kosmische Oase (...) inmitten der enttäuschenden Himmelswüste“ erwiesen. Fotografien vom Mond mit seiner grauen, verkraterten Oberfläche und die von Sonden wie Voyager zurückgefunkten Erkenntnisse über das Sonnensystem enttäuschten die Hoffnung, die Menschheit könne je andere Himmelskörper besiedeln oder auf anderes intelligentes Leben treffen.
Die Raumfahrt habe so das „kopernikanische Trauma“ geheilt, weil sie die Exzeptionalität der Erde als bewohnbares Habitat und die des Menschen als intelligente Lebensform wiederhergestellt habe. Selbst wenn es im All noch andere bewohnbare oder bewohnte Planeten geben sollte, sei klar, dass sie hinter einer „unübersteiglichen Mauer der Lichtgeschwindigkeit“ liegen. Die „kosmische Neugier“ weiche darum einem erneuerten Interesse an unserer unmittelbaren Umwelt auf der Erde. Wie Blumenberg ahnte, sollten bemannte Reisen in die Tiefe des Alls bloße Episode bleiben: Flogen 1968 an Bord von Apollo 8 die ersten Menschen zum Mond und landeten dort ein halbes Jahr später, sollten 1972 mit Apollo 17 die bisher letzten Astronauten aus so großer Ferne zurückkommen. Nur wer seine Heimat einmal verlassen hat, kann die Erfahrung machen, nach Hause zurückzukehren, wusste Blumenberg.
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