Die bis zu vier Meter hohen Wellen, die Anfang Februar von Nordwesten her auf die Küste Lissabons zulaufen, sind nicht das Problem. Mit denen kommen auch kleinere Fischerboote klar, die jeden Tag von der Trafaria am südlichen Ufer des Tejo-Deltas ablegen. Weniger als eine Seemeile entfernt, auf der anderen Seite der Flussmündung, reiht sich ein Prunkgebäude an das andere. Man sieht moderne Architektur in Form eines Ufos, für die sich der Energieriese EDP entschieden hat, das Entdecker-Denkmal, erbaut während der Salazar-Diktatur (1932 – 1968), das Hieronymus-Kloster und den Präsidialpalast aus der Zeit, da Portugal noch See- und Weltmacht war. Die Uferpromenade mit den grünen Rasenflächen ist fast menschenleer. Nur vereinzelt sind Radfahrer oder Jogger zu sehen, dafür viel Polizei, um die Corona-Maßnahmen zu kontrollieren.
Vier Männer unterhalten sich am Kai der Trafaria, auf dem Kopfsteinpflaster liegen reparaturbedürftige Fischerboote. Es ist Samstagmorgen, normalerweise wäre im kleinen Hafen reger Betrieb. Nicht so in den Zeiten einer Pandemie, die Portugal schwer getroffen hat. „Wenn die Restaurants keinen Fisch mehr kaufen, müssen wir eben anfangen zu stehlen“, meint einer der Fischer. Er trägt die Gesichtsmaske am Kinn. Ich erkenne den Vater einer Mitschülerin meiner zehnjährigen Tochter und schnappe das Gesprächsfragment auf. Er schaut mich einen Augenblick an, grüßt mit einem Lächeln, als wäre die Welt in Ordnung. Ist sie aber nicht.
Polizisten jagen Surfer
Ein paar hundert Meter weiter im Segundo Torrão leben gut 400 Familien. Das illegale Barackenviertel ist ein Slum, eine Favela, als läge diese Gegend Lissabons in Südamerika. Die Einwohner, hauptsächlich Schwarzafrikaner, halten sich mit prekären Jobs über Wasser. Morgens fahren sie mit der Fähre hinein in die Stadt, reinigen Häuser, Wohnungen und Büros, arbeiten in Restaurants und Bistros, in den Küchen oder an den Kassen der Supermärkte. Oder sie passen auf die Kinder der „weißen“ Portugiesen auf. Besser gesagt, all das taten sie, bevor das Land zum Stillstand kam. Am Wochenende gilt die Ausgangssperre bereits ab 13 Uhr. Die paramilitärische Guarda Nacional Republicana (GNR) und die Polícia de Segurança Pública (PSP) halten Autofahrer und Fußgänger an, um zu fragen, warum sie wohin wollen. Die PSP ließ per Pressestatement wissen, sie werde im Bedarfsfall auf eine „brachiale Pädagogik“ setzen, um die Einhaltung eines sich stetig verändernden Regelwerk zu gewährleisten. Damit gemeint ist derzeit der zehnte von Präsident Rebelo de Sousa ausgerufene Notstand.
Am leeren Strand von Carcavelos verfolgt die Polícia Marítima mit ihrem Geländewagen fünf Jugendliche, die mit Surfbrettern ins Meer laufen, sich auf die Bretter werfen und mit den Armen rudernd entkommen wollen. Nur einer wird erwischt, die Videoaufnahmen der Webcam machen schnell die Runde. Dieser „Estado de Emergência“ gilt vorerst bis Ende März und wird danach vermutlich erneut verlängert. Im Parlament votierten die Kommunisten dagegen, während sich die Linksallianz Bloco de Esquerda der Stimme enthielt. Das Votum der beiden Parteien des Zentrums, des Partido Socialista (PS) und Partido Social Democrata (PSD), reichte, um alle Maßnahmen des Präsidenten wie von Premier António Costa (Generalsekretär des PS) durchzusetzen. Das Mitte-links-Bündnis, bestehend aus der PS-Minderheitsregierung, die von den Kommunisten, den Grünen wie dem Linksblock toleriert und häufig als „Geringonça“ (Klapperkiste) beschrieben wird, funktioniert schon lange nicht mehr.
In der Innenstadt, von der Baixa bis zum Castelo, alle sieben Hügel hoch und runter, sieht man geschlossene Hotels, Pensionen und Ferienwohnungen, deren Eigentümer während der Boomjahre die einstigen Bewohner vertrieben haben. In Lissabon verfünffachte sich die Zahl der Luxushotels im zurückliegenden Jahrzehnt. Fahren jetzt die leeren, sonst oft überfüllten gelben Straßenbahnen daran vorbei, bietet sich ein ungewohntes Bild. Die Ökonomie eines Landes, die so viel in die Monokultur Tourismus investiert hat, ist gerade im Begriff zu kollabieren. Immerhin hat der Tourismus bis zur Pandemie über ein Fünftel der Wirtschaftsleistung bestritten.
Den Investoren touristischer Immobilienprojekte, viele aus dem Dunstkreis der letzten Regierungen, wurden mittlerweile Soforthilfen durch Kreditstundungen und garantierte Mieteinnahmen zuteil. Noch vor drei Jahren zählte zu dieser Klientel in Lissabon ein Bürgermeister vom Linksblock, Teilhaber eines 5,7 Millionen Euro teuren Hostels im Stadtteil Alfama. Seine Partei hatte in ihrem Programm und auf Wahlplakaten versprochen, die ursprünglichen Bewohner des Viertels zu verteidigen. Nach wochenlangem Hin und Her – die Parteiführung wollte ihn halten – trat der Bürgermeister zurück.
Die letzte Fähre vor der Sperrstunde 13.00 Uhr legt mit zehn Minuten Verspätung am Pier der Trafaria an. Unter den wenigen Passagieren ist Daniela, deren Mann als Gärtner im wohlhabenden Quartier São João da Caparica arbeitet, während sie selbst Appartements reinigt. Seit Anfang des Lockdowns habe sie alle bis auf eine „Patroa“ verloren. „Patroa“ bedeutet Chefin oder Besitzerin, wie hier Arbeitgeberinnen traditionell genannt werden. In fast jeder Familie der Mittelschicht, ob bei Lehrern, Ärzten oder Verwaltungsangestellten, arbeitet mindestens einmal in der Woche eine Haushaltshilfe, wofür selten Steuern und Sozialabgaben entrichtet werden. Daniela hat sechs „Patroas“ eingebüßt, die nicht mehr zahlen können oder eine Ansteckung fürchten und ihr deshalb gekündigt haben. Vom Staat bekomme sie in ihrer Lage keinen Cent. Es gibt Studien, aus denen hervorgeht, dass die Parallelwirtschaft in Portugal Einnahmen generiert, die sich auf ein Drittel des gesamten Bruttoinlandsprodukts (BIP) belaufen. Nicht nur Reinigungskräfte und Bauarbeiter müssen in diesem Metier ihren Lebensunterhalt verdienen.
Ultrarechter Erlöser
Meine Nachbarin Mel, Anfang 40 und Eigentümerin von zwei Restaurants, die beide geschlossen sind, steht neben ihrem Fahrrad und erzählt aufgeregt, dass sie sich auf Anraten ihrer Ärztin im Instituto Português de Oncologia operieren lassen wollte. „Ich habe dort angerufen und bekam zu hören – wegen Corona geht das erst in drei oder vier Monaten. Weißt du, was ich getan habe? Ich bin zu einer privaten Klinik gegangen. Die operieren mich nächste Woche, mit oder ohne Pandemie.“ Manuela, eine andere Nachbarin im etwa gleichen Alter, befand sich in einer ähnlichen Situation und ist inzwischen verstorben. Schon lange vor der Pandemie gab es bei Fachärzten und für Operationen jahrelange Wartelisten. In Notaufnahmen sind Wartezeiten von fünf bis zehn Stunden eher die Regel als die Ausnahme.
Die Wellen der Entrüstung über derartige Missstände, über Skandale und Vetternwirtschaft oder eine nicht funktionierenden Verwaltung nähren seit Jahren bei vielen Portugiesen die Sehnsucht nach einem politischen Erlöser. Einen wie André Ventura, der als Bewerber der rechtsextremen Partei Chega („Es reicht“) bei der Präsidentenwahl am 24. Januar gut zwölf Prozent der Stimmen erhielt. Die Rekordzahlen bei Corona und ein zusammenbrechendes Gesundheitssystem haben die Empörung und Wut erst recht angefacht. Offiziell ist die Wirtschaft im Vorjahr um acht Prozent geschrumpft. Würde die Parallelwirtschaft berücksichtigt, wäre der Wert zweistellig. Im laufenden Jahr fürchten Hunderttausende um ihre soziale Existenz und fragen sich, ob sich die Krise in den kommenden Monate mit der Zerstörungskraft eines Tsunamis Bahn bricht.
Viele weinten mit
Wie konnte es dazu kommen, dass die Zahlen so dramatisch explodierten? Wegen des Tourismus und der allgegenwärtigen gastronomischen Familienbetriebe hat die Regierung zu lange gezögert. Als kurz vor Weihnachten in anderen EU-Ländern die Flüge aus Großbritannien schon untersagt waren, konnten Maschinen von dort noch wochenlang Porto, Lissabon oder Faro anfliegen. Tausende von portugiesischen Gastarbeitern kamen aus britischen Städten, um Weihnachten mit der Familie zu feiern. Mehr als 70.000 Briten leben ganzjährig in Portugal, viele bekamen zum Jahreswechsel Besuch von alten Freunden. Hinzu gesellten sich die Touristen, die bis in das neue Jahr hinein Hotels in Lissabon und an der Algarve gebucht hatten und gern mit den Portugiesen im Bairro Alto und oder entlang der Barmeile der Praia da Rocha feierten, wo Restaurants und Kaffeehäuser noch im Januar bis 23 Uhr geöffnet blieben. Die Regierung hatte verkündet, Weihnachten tolerant sein zu wollen. „Wir mögen nicht entscheiden, wer mit am Festtisch sitzen darf.“ Drei Wochen später hieß es, die Schulen werde man wohl nicht schließen müssen. Dabei schossen die Zahlen schon durch die Decke.
Offenbar galt die Hoffnung, die britische Corona-Mutation werde wie ein Spuk von selbst verschwinden. In den zumeist ungeheizten Wohnungen wurde es im Januar immer kälter, als die Temperaturen ungewöhnlich weit nach unten gingen. Das sei gut für das Virus, weil schlecht für die menschliche Abwehrkraft, warnten die Spezialisten. Bald verzeichnete Portugal pro Tag zehnmal so viele Neuinfizierte wie Deutschland und ein Vielfaches an Todesopfern. Die Minister hielten noch ein paar Tage ihr Dauerlächeln durch, dann entglitten die Gesichtszüge bei den täglichen Pressekonferenzen zusehends. Gesundheitsministerin Marta Temido weinte, und viele weinten mit. Nur unter dem Druck Tausender Eltern, die in den sozialen Netzen ankündigten, ihre Kinder nicht mehr in die Schule zu schicken, und das auch taten, hatte Regierungschef Costa ein zu spätes Einsehen. Meine Töchter und viele Nachbarskinder blieben schon in der Woche vor den vollzogenen Schulschließungen zu Hause.
Wie es weitergehen wird, weiß niemand. Die von der Regierung im März 2020 versprochenen 300.000 Laptops sind nicht da, in den Schulen fehlen Computer und digitales Unterrichtsmaterial, also wurden die Ferien erst einmal vorgezogen, da für Homeschooling trotz aller Beteuerungen die materielle Basis fehlt.
Am 1. Februar brach auch ein portugiesischer Offizier am Flughafen in Tränen aus, als ein A400M-Transportflugzeug der Bundeswehr und ein Airbus A310 mit Material und medizinischem Fachpersonal landeten. Es gab Live-Übertragungen im Fernsehen, das Land atmete auf. Europäische Solidarität: Der gute Deutsche ist da. Unter dem Strich: acht Ärztinnen und Ärzte. Dabei scheinen die portugiesischen Medien, die inzwischen durch im Voraus ausgezahlte Werbeeinnahmen von der Regierung mitfinanziert werden, völlig vergessen zu haben, dass im vergangenen Jahrzehnt mehr als 10.000 Krankenpfleger und gut 4.000 Ärzte in andere EU-Länder auswandern mussten. Das Fachpersonal, welches nun in den Hospitälern fehlt, arbeitet in Deutschland, Schweden, Großbritannien oder in den Niederlanden. Die letzten drei Regierungen warben aktiv für das Auswandern als Alternative, da sie – um während der Finanzkrise den Spardiktaten aus Brüssel wie Berlin gerecht zu werden – Kosten herunterfahren und öffentliche Ausgaben kürzen mussten. Wenn Humor und Selbstironie zur letzten Stütze der Moral werden, kursieren Witze, die dem Wunsch Ausdruck geben: „Bitte auch Senhora Merkel schicken, damit es mit dem Regierungschaos bald ein Ende hat.“
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