Die Angst vor den Putzfrauen

Alltagslektüre Mikael Krogerus bedauert, dass es keine Journalisten mehr gibt, die sich etwas trauen. Und liest dann ein Buch über "New New Journalism", das ihn begeistert

Was habe ich gelesen?
The New New Journalism: Conversations with America's Best Nonfiction Writers on Their Craft (Vintage Original)" target="_blank">The New New Journalism von Robert S. Boynton

Seitenzahl: 456 Seiten.

Amazon-Verkaufsrang: 25.677

Warum habe ich es gelesen?

Keine Neuheit: Das Leben ist langweilig. Letzte Woche aber schien es mir besonders eng und überschaubar – so aufregend wie ein Sonntagsspaziergang. Kein Wunder, dachte ich, dass sich parallel zur Apathie des Lebens auch eine Apathie der Medien gesellt hat. Meine These: Journalisten haben keine Eier mehr. Wo sind die saufenden, hurenden, lebensmüden Schreiber? Ich spreche hier übrigens von beiden Geschlechtern und allen sexuellen Ausrichtungen, da die Hälfte der Journalisten, die Eier hatten, schwul waren (Ginsberg, Burroughs, Capote) und viele Frauen auch Eier hatten (Annemarie Schwarzenbach etwa oder Gertrude Stein). Was ist hier los? Warum sind Schreiber mit Eiern ausgestorben?

Diese kleine grundlegende Überlegung beruht auf der Lektüre eines Buches: Now Dig This – The unspeakable writings of Terry Southern. Eine postmortem Sammlung von Kurzgeschichten, Artikeln, Briefen des US-Schriftstellers Terry Southern. Terry hatte Eier. Und er hat nebenbei den sogenannten „New Journalism“ erfunden, ein neues Genre; es ging nicht mehr darum, von der Wahrheit zu berichten. Es ging darum, sie selbst zu erleben. Im „New Journalism“ probierten die Journalisten Drogen, Sklavenarbeit oder Gefängnis selbst aus – und schrieben darüber. Das hatte nichts mit den selbstreflexiven Ich-Geschichten von heute zu tun, aber ganz viel mit Mut und noch mehr mit Humor.

Der beste Abschnitt in dem Buch ist ein Nachruf auf Kurt Vonnegut. Der Nachruf ist letztlich vor allem eine detaillierte Beschreibung eines Pariser Bordells – La Maison de Lange – und der Spezialität dieses Etablissements: einem exotischen Blowjob namens „Le Cercle des Enfants du Paradis“. Wer es sich leistet, den vielleicht größten Schriftsteller seiner Zeit, Kurt Vonnegut, mit einer gemeinsamen absinthgetränkten Geschichte aus einem Pariser Bordell zu würdigen, der hat Eier. Das Buch las ich in einer Nacht. Und es hat, wenn überhaupt, nur eine Schwäche: es wurde vor 50 Jahren geschrieben. In einer Zeit, als echte Männer noch Hüte trugen und in Hotels lebten (echte Frauen übrigens auch: siehe Simone de Beauvoir). Die Schwäche: So etwas gibt es nicht mehr. Man kann also schlecht davon träumen. Enttäuscht und wütend, dass die Wirklichkeit für New Journalism keinen Platz mehr vorsieht, stieß ich auf ein dickes Taschenbuch mit dem vielversprechenden Titel: The New New Journalism.

Worum geht es?

Vor vier Jahren besuchte Robert S. Boynton, der Präsident der Magazinjournalismus-Fakultät der New York University, eine zweite Generation Schreiber, die, wie er meint, die Nachfolgegeneration des „New Journalism“ bildet. Michael Lewis, Jon Krakauer, Jane Kramer, Gay Talese, William Finnegan, Susan Orlean und andere. In dem Buch interviewt er sie ausführlich. (Woher bekommen Sie Ihre Ideen? Was machen Sie bei Schreibblockaden? Scheiben Sie am Stück oder in Etappen? Bereiten Sie Fragen vor bei Interviews? Wann wissen Sie, dass Sie genug wissen für eine Story?).

Seine Interviewpartner sind die Schwergewichte der US-Magazinlandschaft, die Vertreter des sogenannten „Literary Journalism“, einem Genre, bei dem exzessiv recherchiert wird, oft über Monate und unabhängig von Trends oder aktuellen Themen. Die Texte erscheinen dann in einer Länge von bis zu 12 Seiten in schlauen Magazinen oder gleich in ganzen Büchern. Es sind wunderbare Texte, faktenreich und gründlich recherchiert, weniger eitel als die „New Journalism“-Gurus wie Capote oder Wolfe, dafür oft lakonischer und ehrlicher. Es sind Texte von Menschen, die schreiben können, für Menschen, die lesen können. In den Interviews erzählen die Journalisten freimütig von Schreibschwierigkeiten, von Ängsten, von Unsicherheiten, aber auch davon, wie man sie überwindet und von dem befreienden Gefühl, endlich schwarze Schrift auf weißem Papier zu sehen.

Während die Interviewpartner erklären, wie sie es machen, zeigt Boynton anhand seiner Fragetechnik, wie man es macht: klare Fragen stellen, nicht Dinge fragen, die man schon weiß. Seine Fragen lassen nicht ihn gut dastehen, sondern sie locken gute Antworten hervor. Wenn man die Gründlichkeit dieser Journalisten mit sich selbst vergleicht, will man sich erschießen. Wenn man die Einfachheit von Boyntons Fragen liest, möchte man jedes selbstgeführte Interview unmittelbar rückgängig machen. Ein brillantes Buch. Vielleicht das beste in diesem Jahr.

Das beste Zitat

Viele sind gut. Eines herauszustellen wäre falsch, ich mach es trotzdem. Calvin Trillin, der Altmeister des New Yorker, erzählt von seinen ersten Skizzen für Artikel. Sein allererster Rohentwurf ist eine dahingeworfene, schlecht geschriebene Zusammenfassung dessen, was er dann später sauber ausschreiben will; er nennt den Entwurf „Vomit Out“ (das Ausgekotzte). In dem Zitat beschreibt er seine Angst, dass Putzfrauen in seinem Büro den Entwurf lesen könnten: „I was always afraid the cleaning women would find my Vomit Out. Then one cleaning woman would read it out loud to the others: Just listen to this! she’d say. And this guy calls himself a writer! Then they would all laugh and slap their brooms against the desks like hockey players“.

Wer sollte es lesen?
Journalisten.

Was lese ich als nächstes?
Spür die Angst: Stockholm Crime" target="_blank">Snabba Cash von Jens Lapidus.

Die Alltagslektüre: In seiner Kolumne unterzieht Freitag-Autor Mikael Krogerus jede Woche ein Buch seinem persönlichen Lese-Check. Zuletzt:

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