Eine lange Schicht

Alltagskino Unser Kolumnist zog sich im Fernsehen einen Arbeitstag lang die Rettung der chilenischen Kumpel rein und wundert sich über sein voyeuristisches Interesse

Was habe ich gesehen?

„n-tv Livestream – Das Wunder von Chile“, 2010, Laufzeit: 10 Stunden (mit Unterbrechungen). Eine Milliarde Menschen sollen die Rettungsaktion live im Fernsehen verfolgt haben. Aus Deutschland übertrugen ARD, ZDF, Phoenix, Sat.1, N24. Ich entschied mich für n-tv.

Warum habe ich es gesehen?

Geplant war Zidane. Aber ich wurde, völlig überraschend, von einem heftigen, voyeuristischen Interesse am Gruben(un)glück ergriffen – dabei hatte mich die Sache eine Stunde zuvor noch gelangweilt.

Worum geht es?

33 Bergarbeiter werden in im 50-Minutentakt in raketenähnlichen Metallkapseln aus einer Grube befördert. Alle sind frisch rasiert, tragen Sonnenbrillen, und umarmen jeden, der nicht bei drei auf den Bäumen ist. Bei der Bergung wurden zunächst "die geistig Fittesten" geholt, die auf mögliche klaustrophobische Zustände in der Kapsel am Coolsten reagieren würden. Dann die gesundheitlich Angeschlagenen und am Ende die körperlich Stärksten. Ich schaltete um 10 Uhr 30 ein, Osman Araya (30) war gerade auf dem Weg nach oben. Auffallend in den nächsten acht Stunden war, dass einzig auf den eigentlichen attraktiven Carlos Barrios (27), der so gegen 15 Uhr hochkam, nur ein alter Mann wartete. Es war der erste Kumpel, auf den keine weinende Frau zustürzte, und der erste, bei dem mir die Tränen in die Augen stiegen. Um 20.30 Uhr kam Pablo Rojas Villacorta (45) hoch. Auch er umarmte alle Umstehenden. Ich schaltete aus. Schicht im Schacht.

Erinnerte an: RTL-Reality-Shows.

Was bleibt?

Ein Reihe von Fragen: Woher rührt dieser krude chilenische Nationalismus? Warum um alles in der Welt sah man überall die chilenische Flagge? Die Grube war doch privatisiert, oder?! Ist die Psychologie womöglich am Ende – oder woher rührt die zutiefst lächerliche Seelenpulerei der angeheuerten n-tv-Hauspsychologen? Werden die geretteten Kumpel arbeitsrechtlich vergütet? Wie schlimm war es wirklich? Andere gehen ins Kloster, könnte man aus der Grube vielleicht ein spirituelles Retreat machen? Wo zum Teufel war Alejandro Bohn, der Besitzer der Mine? Wer waren die privaten Investoren, die fast 5 Millionen zahlten? Wie viel verdient ein Kumpel unter Tage in Chile? Gab es jemanden, der lieber unten geblieben wäre? Wie finanziert man in Zukunft Minen? Wer war doch gleich Schuld an der Katastrophe? Ist die Freude deutscher Politiker echt, wenn sie von "großem Glück" sprechen – oder spielen sie das Mitgefühl nur? Haben diese Männer die Hölle erlebt? Gibt es einen Gott – und wenn ja, welchen? Auch unklar: Wie starb Uwe Barschel?

Was sehe ich als nächstes? Zidane.

Unser Kolumnist Mikael Krogerus sieht sich jede Woche einen Film an. Manchmal auch eine Mini-Serie. Und manchmal auch n-tv. Vergangene Woche sah er The Corner.

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