Harmloser Rassismus II

Alltagslektüre Mikael Krogerus liest das Tim-und-Struppi-Comic "Der Blaue Lotos". Darin versucht Hergé, sich von seiner Kolonialismusdenke zu verabschieden. Aber ist damit alles gut?

Was habe ich gelesen? 
Der Blaue Lotos, Band 4 der Tim und Struppi-Reihe von Hergé.

Seitenzahl: 64 Seiten.

Amazon-Verkaufsrang: 8.093.

Warum habe ich es gelesen?

Bei dem Versuch, das Neue Testament (oder NT, wie Theologen sagen) in einer Woche zu lesen, blieb ich bei Matthäus stecken und griff zu einem Comic. Leser Steffen Vogel hatte darauf hingewiesen, dass nicht etwa Asterix und Obelix, sondern Tim und Struppi die echten Rassisten seien. Man denkt natürlich sofort an Tim im Kongo: Bizarrer Kolonialisten-Klamauk mit Großwildjäger-Phantasien und breitlippigen Eingeborenen-Trotteln in Belgisch-Kongo. Die stärkste Szene: Tim steht im Kongo vor einer Schulklasse mit Einheimischen und sagt: „Ich möchte euch etwas über euer Land erzählen: Belgien“. Es ist doch so: Tim im Kongo rassistisch finden ist so einfach wie Obama mögen. Aber was ist mit Der Blaue Lotos, jenem gefeierten Band, mit dem Hergé, laut dem führenden Tintinologen Michael Farr, einen „differenzierten Blick“ entwickelte?

Worum geht es?


Tim, ein Journalist, entspannt sich in Indien bei Maharadscha Gaypijama (Homophobie?). Während einer lustigen Fakir-Vorführung wird ein kleiner Chinese von einem mit dem geheimnisvollen Gift Radjaidjah getränkten Pfeil getroffen und verfällt dem Wahnsinn. Seine letzten Worte sind „Schanghai“ und „Mitsuhirato“. Tim fackelt nicht lange und nimmt mal schnell (sic!) das Schiff von Bombai nach Schanghai. Der Reporter und sein Hund landen mitten in den politischen Wirren des Jahres 1931. (Japan beanspruchte chinesische Gebiete, Amerika und Europa fürchteten um ihren Handelsplatz, Shanghai: eine einzige Opiumhölle). Dann überschlagen sich die Ereignisse. Tim entgeht mehrfach knapp dem Tod, Kriege brechen aus, ein verrückter Laotseanhänger mutiert zum Henker, Chefdealer Rastapopoulos taucht auf und ab, Leute werden wahnsinnig oder verhaftet oder beides. Es steckt viel drin in Der blaue Lotos; es geht um den Boxeraufstand und die Elternliebe, Fremdherrschaft und Laotse, Doppelagenten und Drogendeals. Und hätte Tim – wie normale Journalisten – den Reporterblock statt eine Browning im Hosenbund, wäre sein viertes Abenteuer vermutlich sein letztes gewesen.

Was bleibt hängen?


Die grandiose Passage auf Seite 24, bei der Hergé in einer twitterartigen Informations-Salve den hochkomplexen Mandschurei-Konflikt nacherzählt – bei dem die Japaner 1931 ein chinesisches Attentat inszenierten – und die anschließende Kettenreaktion bis hin zur Mobilmachung. Es ist eine verstörende, bildgewaltige Erinnerung daran, wie ein Streichholz einen Weltkrieg auslösen kann.

Ist es rassistisch oder harmlos?

Hergé bezieht eindeutig und für seine Zeit ungewöhnlich politisch Stellung, indem er den japanischen Imperialismus, der in weiten Teilen Europas als salonfähig galt, scharf geißelt. Auch die versoffenen Amerikaner und gewalttätigen Briten kommen schlecht weg; die Chinesen wiederum werden als lammfromme, fast schon selbstlose Opfer gezeichnet. (Auffallend, wie wenig Hergés handzahme Darstellung mit dem Bild einer „unberechenbaren Supermacht“ (Der Spiegel) gemeinsam hat, das wir heute haben.)

Alles okay also?

Mitnichten. Man spürt in jedem Satz Hergés Unbehagen darüber, dass er noch Jahre zuvor mit Tim im Kongo und Tim in Amerika in tiefster Kolonialdenke über Ureinwohner gelästert hatte. Hier in China wollte er alles besser machen. Karikierte die Japaner als wutverzerrte Militärnarren. Widmete einem chinesischen Künstlerfreund einen liebevollen Cameo-Auftritt („Tschang“). Baute sogar eine umständliche Sequenz ein, in der sich Tim bei Tschang für die schrecklichen Vorurteile der Europäer gegenüber China entschuldigte. Aber steckt in dieser gut gemeinten Aufwertung nicht auch eine Abwertung? Eine Art Rassismus zweiter Ordnung? Der Chinese bei Hergé ist weise, fromm, auch ein wenig lustig, aber doch nie ganz auf Augenhöhe mit dem cleveren Tim. Nicht unähnlich Jean-Jaques Rousseaus Haltung gegenüber dem „edlen Wilden“ nimmt Hergé hier eine merkwürdig verklärte Sicht ein, die ebensoviel Mitgefühl wie Überlegenheit verrät.

Das beste Zitat?

Der als Chinese verkleidete japanische Spion Mitsuhirato gibt Tim den kongenialen Ratschlag: „Trauen Sie niemandem. Vor allem nicht den Chinesen“.

Wer sollte es lesen? 
Alle, die den Boxeraufstand für ein Sportevent halten.

Was lese ich als nächstes? Das NT. (Ehrlich!)


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