Was habe ich gesehen?The September Issue (2009), Laufzeit: 88 min, Regie: R.J. Cutler.
Warum habe ich es gesehen?
Geplant war When a Stranger Calls, der Film mit den „nervenzerreißendsten ersten 22 Minuten der Filmgeschichte“ (Entertainment Weekly). Was ist passiert? Nun, I've chickened out, wie der Amerikaner sagt. Meine Frau war weg, meine Kinder schliefen bereits. Und ich hatte Angst vor einer DVD. Für solche Fälle habe ich einen kleinen Stapel mit feinen Not-Filmen griffbereit neben meinem Bett. Zu oberst lag der Dokumentarfilm: The September Issue – um das vorweg zu nehmen: eine tolle Wahl (When a Stranger Calls: nächste Woche, versprochen).
Worum geht es?
Um die Produktion der September-Ausgabe 2007 des US-Modemagazins Vogue. Wenn Mode eine Religion
Worum geht es?Um die Produktion der September-Ausgabe 2007 des US-Modemagazins Vogue. Wenn Mode eine Religion ist, ist Vogue die Bibel. September ist der wichtigste Monat im Modejahr, „it's the January of the fashion world“, sagt eine Frau im Film, der Monat also, in dem man entscheidet, alles neu zu machen. 2007 war das Jahr als die Vogue-Ausgabe so fett war wie nie zuvor: 870-Seiten, zwei Kilogramm schwer. Der Film kreist um die mythische Chefredakteurin Anna Wintour (von allen nur „Anna“ gerufen), die ihr Blatt seit 1988 mit stalinistischer Härte und Herzlosigkeit führt. Ihre Untertanen – alles gestandene Fashion-Größen – zittern vor ihr verängstigt wie Kaninchen vor einer Schlange. Wenn Anna sagt: „I don't like that pic“, dann antwortet der Design Director, dass er das Bild auch nicht möge und es entfernen werde – auch wenn er Sekunden vorher noch dem Kameramann gestanden hatte, dies sei sein Lieblingsfoto.Und so schwebt Wintour durch die Fashion-Welt, krittelt an Jean Paul Gaultiers Kleidern herum, meckert über Mario Testinos Bildauswahl, terrorisiert ihre Angestellten und steuert dabei den Kahn zielsicher auf die Produktion der Ausgabe hin. Man erfährt nebenbei so einiges in dem Film: zum Beispiel, wie langweilig Sienna Miller wirkt (und wie durchschnittlich sie aussieht ohne Photoshop!), oder was für ein Dünnbrettbohrer Starfotograf Mario Testino ist. Auch interessant: die unvorteilhaften ärmellosen Kleider der Frau Wintour. Ist es so, dass sich niemand traut ihr zu sagen, wie unmöglich das aussieht?Worum geht es wirklich? Um einen Catfight: Die einzige Person, die Anna (ein wenig) widerspricht ist ihre brillante Creative Directorin, das ehemalige Topmodel Grace Caddington mit der großartigen roten Stromschlag-Mähne. Die beiden Frauen sind ungefähr gleich alt und benehmen sich wie Mick Jagger und Keith Richard. Anna Wintour ist der Boss. Sie weiß das und Grace Caddington weiß das, und sie weiß, dass Grace das weiß. Aber sie braucht Grace, diese eigensinnige, witzige, melancholische Kratzbürste, deren Brillanz selbst einem Blinden in der Szene wie mir offenbar wird, als sie drei Tage vor Redaktionsschluss ein Fashion-Shoot improvisiert, bei dem sie den Kameramann des Dokumentarfilms als Model einsetzt.Das Ergebnis ist so erfrischend und unerwartet, dass sogar Anna Wintour lächelt – zum ersten Mal im Film. (Wobei unklar bleibt, ob sie tatsächlich das Bild mag oder sich einfach daran ergötzt, dem Kameramann sagen zu können, er sei zu fett. In der nächsten Szene erfährt Caddington, dass der Bauch des Kameramann ge-photoshoped werden soll. Sie springt auf und droht dem Art Director am Telefon: „Nicht alles kann in dieser Welt perfekt sein“.) Es ist der heimliche Höhepunkt des Films. Die Situation, in der Caddington, die zuvor 90 Minuten lang in ihrer künstlerischen Freiheit beschnitten wurde, Gerechtigkeit erfährt. Es heißt, Anna Wintour hätte diesem Dok-Film zugestimmt, in der Hoffnung, es würde ein vorteilhaftes Portrait, dass ihre zuletzt etwas schwächelnde Position im Conde-Nast-Imperium untermauern würde. Tatsächlich ist der Film eine schonungslose Aufnahme aus dem Gulag der Modewelt, mit Grace Caddington in der Rolle als Mensch unter Monstern.Was bleibt: Die Zielsicherheit, mit der Anna Wintour zwischen richtig und falsch zu unterscheiden vermag. Natürlich, die selbstherrliche Aura des Bescheid- und Besserwissens umweht jeden mir bekannten Chefredakteur. Aber mit ist nur eine Person bekannt, Lilli Binzegger, meine Chefin beim NZZ Folio, die mit einer ähnlich glasklaren Sicherheit vorhersagen konnte, welche Geschichten funktionieren und welche nicht. Und wenn sie doch einen kurzen Moment des Nachdenkens oder Zweifelns zuließ, dann nur, so bin ich heute geneigt zu glauben, um uns jüngeren Redakteuren das Gefühl zu geben, auch mal mitdenken zu dürfen.Diese Figur wäre ich gern:Der hochtalentierte aber angenehm unsichere Modedesigner Thakoon.Erinnert an diese Filme: Man denkt natürlich an den guten The Devil Wears Prada – aber Meryl Streep als Anna Wintour-inspirierte Chefredakteurin ist eine totale Fehlbesetzung. Das menschelnde, das mitfühlende, das bei Streep unter der harten Oberfläche hervorlugte, geht Wintour total ab. Insgesamt: unsentimentaler als The Devil Wears Prada, genauer als der überdrehte Prêt-à-porter.Was sehe ich als nächstes? When a Stranger Calls