Was habe ich gelesen?
The Road" target="_blank">The Road von Cormac McCarthy.
Seitenzahl: 307 Seiten
Amazon-Verkaufsrang: 35.303.
Warum habe ich es gelesen?
Es ist das jüngste Werk des meiner Meinung nach wichtigsten zeitgenössischen Schriftstellers. Die Verfilmung kommt bald in die Kinos. Eine Faustregel: erst das Buch, dann der Film.
Worum geht es?
Die Welt ist untergegangen. Die Wälder sind tot, die Städte leer, auf den Straßen nicht mal Ratten. Die Sonne: verhüllt von einer gelb-grauen Staubwolke („by day the sun circles the earth like a grieving mother with a lamp“). Und überall ausgebrannte Autowracks und verkohlte Leichen, es sind die Opfer einer Jahre zurückliegenden Katastrophe, die fast alles Leben ausgelöscht hat. Die wenigen überlebenden Menschen kämpfen mit einer besinnungslosen Rücksichtslosigkeit und Brutalität um die letzten auffindbaren Essensvorräte. Wo sie keine finden, herrscht Kannibalismus.
Durch diese verbrannte Un-Welt stolpern ein Mann und sein Sohn Richtung Westen auf dem Weg zum Meer. Sie sind hungrig, verwahrlost, krank und in ständiger Angst vor den anderen Überlebenden. Manchmal finden sie Konservendosen oder unbeschädigte Einmachgläser. Und manchmal finden sie verlassene Feuerstellen, über denen ein verkohltes Baby auf einem Spieß brutzelt. Es gibt Szenen in dem Buch, die ich am liebsten vergessen würde. Aber wie der Mann seinem Sohn erklärt: "You forget what you want to remember and you remember what you want to forget" - du vergisst, woran du dich erinnern willst und du erinnerst dich an das, was du vergessen willst.
Durch Rückblenden erfahren wir, dass die Mutter sich kurz nach der Katastrophe die Pulsadern aufgeschnitten hatte und verblutete, nachdem klar wurde, dass der Vater nur noch zwei Kugeln in seinem Revolver hatte – eine zuwenig, um die Familie auszulöschen. Im Revolver des Vaters steckt inzwischen nur noch eine Kugel. Der Sohn soll sich damit in den Kopf schießen, falls sie in die Hände der Kannibalen fallen. Immer wieder schärft er ihm das ein. Und immer wieder überlegt er, seinen Sohn selbst zu erschießen, um ihn von der vor ihm liegenden Pein zu erlösen.
Als der Sohn dem Tode nahe im Unterholz schläft, wirft sich der Vater auf die Knie und ruft Gott an. Ob er da sei. Ob er ihn endlich sehen würde. Ob er einen Hals habe, damit er ihn erdrosseln könne. Ob er ein Herz habe. In knappen, abgehackten Dialogen diskutieren Vater und Sohn Grundsätzliches. Gut und Böse. Herkunft und Zukunft. Gott. Jedes Gespräch endet mit dem Versprechen des Vaters, seinen Sohn nicht alleine zu lassen. Nie. Auch nicht im Tod. Das Versprechen zieht sich wie ein Mantra durch das ganze Buch.
Am Ende erreichen sie das Meer, das sich als vergiftet und tot herausstellt. Wenig später stirbt der Vater aus Erschöpfung. Er bricht sein Versprechen. Der Sohn bleibt drei Tage bei der Leiche, dann wird er von einem Mann aufgegriffen.
Was bleibt hängen?
Es ist eine recht einfache, geradlinig erzählte Geschichte. Man hat keine Chance sich mit verästelnden Nebenhandlungen abzulenken oder über sinnlose B-Charaktere zu sinnieren – es geht immer nur um den Mann mit seinem Sohn und das Grauen. Es ist eine 300-Seiten-lange Meditation über körperlichen und geistigen Verfall. Was denkt man, wenn man so etwas Schreckliches wie The Road liest? Man fragt sich, was man selbst getan hätte (sich umbringen!). Man überlegt, ob die Welt wirklich untergehen kann (was ist aus der Atomabrüstung geworden, verdammt?!). Man grübelt, ob der Mensch dem Menschen wirklich ein Tier ist (vielleicht werden ja dereinst die wenigen Überlebenden händchenhaltend „Kumbaya My Lord“ singen?). Und man fragt sich, ob Cormac McCarthys Erzählung eigentlich eine Parabel ist auf die Höllenqualen eines schwer depressiven Menschen. Nachrichten sozusagen aus der Einsamkeit.
Vor allem aber erlebt man eines beim Lesen: Angst. Kalte, nackte Angst. Die Angst kommt wohl daher, dass es sich hier nicht um ein Science-Fiction-Werk handelt. Es ist keine klimakritische Warnung, keine nukleare Zukunftsvision, keine weitere mccarthyeske Studie menschlicher Gleichgültigkeit und Brutalität wie in Blood Meridian oder No Country for Old Men. The Road ist auch keine Variation das ewigen Literaturlieblings: Vater-Sohn-Beziehungen. Aber es ist ein tiefer Blick in die größte Angst, die ich als Vater kenne. Die Angst, mein Kind nicht schützen zu können.
Wie liest es sich?
Das Buch enthält keine Anführungszeichen, die Personen tragen keine Namen, wir erfahren keine Fakten, keine Zahlen. Es enthält auch keinen einzigen überflüssigen Satz. Es ist ein großes Buch, das meinen Blick auf die Welt verändert hat. Ich ertappte mich dabei, wie ich mir, in einem Restaurant sitzend, plötzlich vorstellte, dass meiner Familie etwas zugestoßen wäre. Ich muss blass geworden sein, die Kellnerin, auch eine Frau vom Nachbartisch sprachen mich an. Nach einigen Minuten fasste ich mich wieder. Ich eilte nach Hause. Meine Frau war da, meine Kinder waren da. Alles war gut.
Das beste Zitat?
"He thought that in the history of the world it might well be that there was more punishment than crime."
Was lese ich als nächstes?
African Psycho, Alain Mabanckou
Die Alltagslektüre: In seiner Kolumne unterzieht Freitag-Autor Mikael Krogerus jede Woche ein Buch seinem persönlichen Lese-Check. Zuletzt: Zwei an einem Tag von David Nicholls
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