Ode an die Verhaltenstherapie

Alltagskino Zur Vorbereitung auf die WM gibt es im Hause Krogerus "Charlie und die Schokoladenfrabrik" - auf Wunsch des Sohnes. Was der wohl zu der drögen Klassiker-Verfilmung sagt?

Was habe ich gesehen?Charlie und die Schokoladenfabrik (2005) von Tim Burton. Laufzeit: 115 min.

Warum habe ich es gesehen?

Ich wollte Any Given Sunday als Einstimmung auf die WM schauen, aber der Film ist wegen einiger Sex-Szenen erst ab 16 freigegeben – mein Sohn hätte also doppelt so alt sein müssen, um mit schauen zu dürfen – und also entschieden wir uns für einen Kinderfilm. Ich sagte: „Deutschland-Argentinien 1986“. Mein Sohn sagte: Charlie und die Schokoladenfabrik. Er hatte soeben das Buch mit seiner Mutter gelesen und meinte: Das Buch war super, jetzt der Film. Ich schaute ihn an und dachte, er sei alt genug für die Wahrheit: „Du wirst nie glücklich werden, wenn du die Verfilmung eines Buches schaust, das du gern gelesen hast. Es tut mir leid, dass du das ausgerechnet von mir erfährst.“ Er schaute mich an, als hätte ich eine Geschlechts-OP vorgeschlagen. „Es ist so“, fuhr ich fort, „der dümmste Fehler, den du machen kannst, ist, zuerst einen Film zu sehen und anschließend das Buch zu lesen. Der zweitdümmste ist: erst ein Buch lesen und dann die Verfilmung schauen. Ersteres raubt die Vorstellungskraft, letzteres löscht die Erinnerung.“ – Mein Sohn: „Können wir den Film jetzt sehen?“

Worum geht es?

Unterschichtskind Charlie (Typ: Waldorfschüler, der nicht verlernt hat, zu staunen) gewinnt in einem Preisausschreiben eines von fünf goldenen Tickets und damit eine Rundtour durch die sagenumwobene Schokoladenfabrik des ebenso sagenumwobenen Mr. Wonka. Die vier anderen Gewinner sind altkluge Kinder reicher Eltern. Sie werden für ihre Sünden (Völlerei, Habgier, Hochmut etc.) bestraft, indem Wonka sie in Schokolade ertränkt, von Eichhörnchen entführen lässt oder in einem Teleporter schrumpft. Ähnliches Prinzip wie Seven. Am Ende lehrt der Waldorfschüler Herrn Wonka die Bedeutung einer gesunden Kernfamilie.

Was bleibt?

In Tim Burtons Verfilmung des Roald-Dahl-Klassikers spielt Johnny Depp Mr. Wonka wie eine Mischung aus Thomas Gottschalk, Oscar Wilde und Michael Jackson (die Synchronstimme erinnert an Hamit Altintop). Er trägt Gummihandschuhe und ist menschenscheu, als ginge es hier nicht um Schokolade, sondern um die Schweinegrippe. Seit seiner albernen Darstellung in Pirates of the Carribean ist Depp nicht mehr von seinem Trip runtergekommen, scheint’s. Er glaubt noch immer, er sei witzig, wenn er tatsächlich nur noch überdreht wirkt. Ich vermute, er will mit seiner Borderline-Performance schwache Skripts aufpeppen. Und tatsächlich, seine Bedenken gegenüber Burtons Drehbuch sind berechtigt. Der Film ist brav wie Bullerbü. Natürlich ist er auch voller traumhafter Verspieltheit. Aber dafür, dass Tim Burton über 100 Millionen Dollar und eine carte blanche bei der Verfilmung hatte, ist das ganze, bis auf die ersten 30 Minuten, recht banal.

Ist das Buch besser?

Natürlich. Dahls Phantasie war so reich wie ein russischer Öl-Magnat, aber seine Schreibe war schlank und gnadenlos wie ein Fallbeil. Kurz: Da wo Burtons Film kitschig ist, war Dahl anrührend. Und das allerschlimmste: Burton blieb nah beim Buch, aber eine dümmliche Handlungssequenz hat er dazuerfunden: Durch Rückblenden erfahren wir, dass Willy Wonka eine Vergangenheit als trauriges Kind hatte. Willy musste eine abstruse Zahnspange tragen, durfte keine Schokolade essen, sein Vater: ein Zahnarzt. Wonka im Buch, das war eine extreme Figur. Irr. Schrill. Saftig. Im Film ist er einfach ein Kind schlechter Eltern. Wie langweilig. Dahls Buch ist ein fetter Spaß. Burtons Film ist eine Ode an Verhaltenstherapie und zweifelhafte Kernfamilienwerte.

Der Film in einem Satz:

Wenn du erwachsen bist, kannst du dir alles leisten, was du willst, aber nicht das, was du als Kind wolltest.

Was sagte mein Sohn?

„Ich fand das Buch gut und den Film auch“. Verflucht.

Was sehe ich als nächstes? Fußball-WM.

Unser Kolumnist Mikael Krogerus sieht sich jede Woche einen Film an oder auch mal eine ganze TV-Serie. Vergangene Woche wagte er sich an die gigantische Gewaltmeditation Valhalla Rising von Nicolas Winding Refn.

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