Pressesprecher des 20. Jahrhunderts

Alltagskino Unser Kolumnist schaut einen Dokumentarfilm über Jaques Vergès, der als Anwalt Nazis, Diktatoren und Terroristen verteidigte. Ein Mann, der fasziniert und verstört

Was habe ich gesehen?

Im Auftrag des Terrors, 2006, Laufzeit: 140 min, von Barbet Schroeder.

Warum habe ich es gesehen?

Leser ed2murrow, der mich regelmäßig mit Tips füttert, hatte mich auf den Film hingewiesen mit den Worten: „ (…) Die Materie ist das beste zwischen James Bond und Der Untergang, nur in real“. Da kann man fast nicht nein sagen, oder?

Worum geht es?

Jacques Vergès (ausgeproschen Ver-schess), ist vielleicht der begnadetste, sicher aber der umstrittenste Anwalt der Nachkriegsgeschichte. Der Franzose beriet Slobodan Milosevic, verteidigte Obernazi Klaus Barbie („Schlächter von Lyon“) und Saddam Husseins Ex-Außenminister Tarek Aziz, eine Reihe afrikanischer Diktatoren, dann Holocaustleugner und jede Menge Terroristen. Er ist der Erfinder der sehr erfolgreichen défense de rupture, einer offensiv angelegte Plädoyer-Technik, vergleichbar mit Bayern Münchens Taktik in der zurückliegenden Saison: man kompensiert eine löchrige Abwehr mit einem grandiosen Sturm.

Der Film erzählt kommentarlos den Werdegang Vergès nach: Wie der auf der Insel La Réunion geborene Sohn einer Vietnamesin sich für die Dekolonisation Indochinas einsetzte und schließlich seine Berufung im Befreiungskampf Algeriens findet. Mit unerbittlicher Leidenschaft richtet er sein ganzes Genie auf die Verteidigung der algerischen Terroristen um die sagenumwobene (und in Deutschland interessanterweise recht unbekannte) Djamila Bouhired. Für Vergès ist sie "das Gesicht der Revolution". Er verliebt sich in ihren Kampf und in sie und eines kommt zum anderen: die beiden bekommen Kinder, Algerien erreicht die Unabhängigkeit, und Vergès ist plötzlich ein strunznormaler Scheidungsanwalt.

An einem Märztag 1970 lässt er dann Beruf und Familie Hals über Kopf hinter sich und taucht acht Jahre lang nicht mehr auf. Es heißt, er habe Pol Pot, dem KGB und/oder dem französischen Geheimdienst gedient. Der Film gibt sich große Mühe, diese Weißstelle zu ergründen. Erfolglos. Vergès selber, der im Film gern und viel redet, aber immer mit der nicht zu verortenden Vieldeutigkeit des schlauen Anwalts, spricht sibyllinisch von "meinem großen Urlaub". (Die Vermutung liegt nahe, dass es ihn diebisch freut, mit solch schillernd-schaurigen Figuren wie Pol Pot in Verbindung gebracht zu werden). Im zweiten Teil des Films erfahren wir von den unglaublichen Verstrickungen des internationalen Terrorismus. Hans-Joachim Klein und Magdalena Kopp geben Auskunft. Namhafte arabische Terroristen treten in ihren Verstecken vor die Kamera und erklären die Welt und auch, was sie von Vergès halten (nicht viel). Sogar Vergès prominentester Klient, Ilich Ramírez Sánchez, genannt Carlos, gewährt den Filmern ein kryptisches Interview am Telefon.

Was lernen wir von dem Film?

Wir erfahren, dass 1959 der linke Anwalt Ould Aoudia auf Geheiß des französischen Permiers Michel Debré ermordet wurde, wir hören von der angsteinjagenden Verbindungen zwischen PLO und europäischen Neonazis, und wir erahnen, dass es zwischen algerischem Befreiungskampf, der OPEC-Entführung, Wadi Haddad, Francois Genoud, dem französsichen Geheimdienst und der STASI einen missing link gab: Jacques Vergès. Nach 146 konzentrierten Minuten ist der Film zu Ende. Und alle Fragen offen.

Was bleibt?

Man vergisst, dass der "Terror" schon viel früher im Westen war. Oder wie ein französischer Regierungsbeamter im Film sagt: „Die USA macht gerade das durch, was wir schon vor 30 Jahren erlebt haben.“

Was ist von Vergès zu halten?

Der windige, hochintelligente Anwalt, der – pardon – in Ansätzen etwas von Gregor Gysi hat, fasziniert. Sein Charme, seine großen Gesten und klugen Antworten, die vieles andeuten und nichts erklären, machen ihn zu einer fast unwiderstehlichen Figur. Das Kokettieren mit Klienten („es gibt keine bösen Fälle“, „ich würde auch Hitler verteidigen“) ist natürlich verstörend bis schlicht blöd. Was bleibt ist der Eindruck, dass hier einer der Hauptfiguren der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts spricht. Der Film ist eine Miniatur des 20. Jahrhunderts. Ein Jahrhundert, das so exzessiv erforscht wurde und doch so wenig Sinn ergibt.

Der Film in einem Satz:

Vergès ist der Pressesprecher des 20. Jahrhunderts: Er hat auf alles eine gute Antwort, bloß passt sie nicht zur Frage.

Diese Frage stellt der Film:

Kann es Kriege geben im Namen der Menschlichkeit?

Wann kann man ihn sehen?

Auf Arte. 2. November um 10.05 Uhr. Wiederholung am 4. November um 14.00 Uhr.

Was sehe ich als nächstes?

Up in The Air.

Unser Kolumnist Mikael Krogerus sieht sich jede Woche einen Film an. Manchmal auch eine Mini-Serie. Und manchmal auch den Poker Channel. sah er sich 90 Minuten Zinédine Zidane an.Vergangene Woche

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