Was habe ich gesehen?
Raja 1918 (2007), Laufzeit: 114 min, Regie: Lauri Törhönen
Warum habe ich es gesehen?
Meine Mutter war zu Besuch. Sie ist Finnin. Ihr Schwermut, ihre schöne Melancholie, ihre Schwäche für alles Familiäre machen mich manchmal ganz wahnsinnig. Ihr Besuch erinnert mich aber auch daran, wo wir herkommen. Also schaute ich einen finnischen Kriegsfilm.
Worum geht es?
Der Film spielt 1918 vor dem Hintergrund des finnischen Bürgerkriegs zwischen den „Weißen“ (der Nationalgarde unter dem Oberbefehl von Carl Gustav Mannerheim und mit Unterstützung deutscher Truppen) und den „Roten“ (den Bolschewiken). Ein Offizier namens Carl von Munck ist beauftragt, eine Ostgrenze für die im Entstehen begriffene finnische Rep
s Carl von Munck ist beauftragt, eine Ostgrenze für die im Entstehen begriffene finnische Republik zu errichten. Die Grenze (finnisch: Raja) wird überflutet mit Menschen, die aus dem post-revolutionären Russland fliehen: Adlige, Künstler, Spione, Akademiker, Taugenichtse. Von Muncks Auftrag ist einfach, er sagt, wer rein darf und wer nicht. Rein dürfen: Finnen und alle anderen Nationalitäten. Nicht rein dürfen: Russen und Juden. Und, ach ja: Finnen, die zu den „Roten“ gehören, den Verlierern des Bürgerkriegs, sollen erschossen werden. Und sie werden erschossen.Was bleibt?Es ist ein kaltherziger Film, der die Sinnlosigkeit und Grausamkeit des Bürgerkriegs schonungslos ausbreitet. (Was nicht in Erinnerung bleibt, ist der schrecklich irrelevante B-Plot zwischen Carl von Munck und der porzellanhäutigen Grundschullehrerin Maaria Lintu). Was hingegen bleibt: Lange nimmt der Film keine Position ein. Beide Bürgerkriegsparteien schneiden schlecht ab. Man hat kaum Sympathien. Die letzte Minute aber hat es in sich; es ist ein herausragendes Ende, das einen noch lange darüber grübeln lässt, wie um alles in der Welt diese Filmemacher finnische Filmförderung erhalten haben: Ein deutscher und ein finnischer Offizier tauschen sich darüber aus, wie leicht es wäre, von ihr aus die finnischen Grenze nach Osten zu verlagern und ein Groß-Finnland (Suur-Suomi) zu schaffen.Warum ist das von Belang?Ich gehe davon aus, dass die meisten Leser nichts über diese Episode der finnischen Geschichtsschreibung wissen. Das muss Ihnen nicht unangenehm sein, auch die meisten Finnen wissen nichts davon. Denn ausgerechnet das erste Kapitel in Finnlands junger Geschichte ist ein eher unrühmliches. Bekannt ist vielleicht, dass Finnland und Deutschland während des Zweiten Weltkriegs „Waffenbrüder“ waren. Sie kämpften gemeinsam gegen Stalin (und deutsche Jägertruppen waren an der finnisch-russischen Front). In der finnischen Geschichtsschreibung wird diese Zusammenarbeit als „letzter Ausweg“ beschrieben, als Not-Option, um nicht mit Russland, dem Erb-Feind kooperieren zu müssen. Dass diese Not-Option hingegen so gut lief, dass Hitler den finnischen Oberbefehlshaber Mannerheim 1942 höchstpersönlich zu dessen Geburtstag besuchte, wird selten erwähnt. Als der schwedische Historiker Henrik Arnstad kürzlich daraufhin wies, dass das „gesamte finnische Außenministerium einen Crash-Kurs in Geschichte belegen“ müsse, flippte Finnland fast aus.Was hat das mit dem Film zu tun?Raja 1918 markiert einen Wendepunkt in der finnischen Geschichtsschreibung. Bis anhin war die heldenhafte Verteidigung gegen den russischen Angriff im Winterkrieg 1939 der Stoff, aus dem der Nationalmythos gemacht war. Sisu ist das finnische Wort dafür. Die beharrliche, an Sturheit grenzende Gabe, nie aufzugeben, nennt man im Finnischen sisu. Dank sisu, so die Legende, boten die Finnen im Winterkrieg den Russen erbitterten Widerstand. Sisu gilt bis heute als Nationaleigenschaft – als Grund für den Erfolg im Wintersport und als Zaubertrank der harten Nokia-Manager. Dass Finnland sich wenige Jahre nach dem Winterkrieg im Verbund mit Hitlerdeutschland zu der größenwahnsinnigen Idee verstieg, Leningrad zu erobern und eine Art Groß-Finnland zu errichten, wird geflissentlich verschwiegen. Der Film Raja 1918 läßt erahnen, dass die zutiefst nationalistischen Züge der finnischen Politik der 1940er-Jahre ihren Ursprung im Bürgerkrieg hatten. Suur-Suomi ist das Reizwort.Würde ich ihn noch mal sehen?Auf jeden Fall. Allein wegen des brillanten Details, dass alle Protagonisten historisch korrekt die jeweilige Sprache sprechen: die finnischen Soldaten reden Finnisch, die aristokratische Oberschicht um Mannerheim Schwedisch, die karelische Grenzbevölkerung fließend Russisch und Finnisch und die militärische Führung der Weißen sprechen mit den deutschen Abgesandten Deutsch.Was machte ich nach dem Film?Ich schämte mich ein wenig dafür ein Nachkomme der „Weißen“ zu sein. Und dachte darüber nach, vielleicht mal Kontakt zu jener Hälfte meiner Familie aufzunehmen, die 1918 auf der „falschen“, der roten Seite stand, und über die in meine Familie seither nie gesprochen wurde.Was sehe ich als nächstes?Videocrazy, Eric Gandini