Was bleibt?

Die Fußballversteher Die einzige WM, die du nie vergessen wirst, ist deine erste
Ausgabe 28/2018
Like a Virgin: „Dieser Madonna spielte ähnlich verrucht und blasphemisch, wie die Musik aus dem Zimmer meiner Schwester klang"
Like a Virgin: „Dieser Madonna spielte ähnlich verrucht und blasphemisch, wie die Musik aus dem Zimmer meiner Schwester klang"

Foto: Laci Perenyi/Imago

Jetzt, da sich die WM zu Ende neigt, frage ich mich: Was bleibt? Worüber werden wir in 30 Jahren reden? (Auch wichtig: Werden wir in 30 Jahren noch reden?) Ich denke, wir, also Menschen im Alter zwischen 20 und 80 Jahren, werden uns an nichts mehr erinnern. Denn die einzige WM, die du immer in Erinnerung behältst, ist deine erste. Der WM, die du mit Kinderaugen siehst, wohnt ein Zauber inne, gegen den keine Superzeitlupe, kein Hashtag, kein „Jahrhunderttor“ eine Chance hat. Man muss dir nur ein Stichwort geben – je nach Jahrgang vielleicht „Rivera“ oder „Gijón“ oder „Guadalajara“ –, und ein Film wird sich über deine Netzhaut legen und den Blick auf die Wirklichkeit verbauen. Du wirst alles wieder sehen, du wirst dich an jede Situation erinnern, genau wissen, wo du warst, mit wem. Und auch, wer du warst.

Ich bin ein Kind der 1986er-WM in Mexiko. Alle Spiele fanden damals um Mitternacht mitteleuropäischer Zeit statt. Ich war erst neun, aber es waren Sommerferien, und ich war bei meinem Vater. Als Frischgeschiedener hatte er das Gefühl, mich verwöhnen zu müssen, also durfte ich die Spiele in ganzer Länge schauen. Und ich schaute sie mit einer Intensität, wie ich sie danach nie mehr erreicht habe. Wie kommt es, dass ich mich besser an das Elfmeterschießen Belgien–Spanien erinnere als an die Halbfinalbegegnung vom Mittwoch? Vermutlich, weil es Zen-artige Momente der totalen Hingabe waren: Ich war zugleich der Spanier Eloy, der zum Elfmeter anlief, und Jean-Marie Pfaff im Tor der Belgier. Ich verschoss den Ball und hielt ihn. Ich starb und wurde unsterblich. Ich erlebte zeitgleich die sechs ewigen menschlichen Grundemotionen Glück, Trauer, Wut, Angst, Ekel und Überraschung.

Und am Tag zuvor hatte ich eine Gottesbegegnung gehabt. Ich sah Diego Armando Maradona. Im Spiel gegen England konnte ich nicht glauben, was da gerade geschah. Konnte, durfte man so spielen? Weil der Fernsehkommentar auf Englisch war, verstand ich wenig und meinte lange Zeit, „Madonna“ gehört zu haben, die Lieblingssängerin meiner Schwester. Und es passte ja auch: Like a Virgin – dieser Diego Armando Madonna spielte ähnlich verrucht, entrückt und blasphemisch, wie die Musik aus dem Zimmer meiner Schwester klang. Und als Madonna dann im Finale endlich den goldenen Pokal in den Händen hielt, wusste ich, viele Jahre vor allen Engländern: Der Fußball hat nach Hause gefunden. Dieser Pokal, dieses Spiel gehört ihm – und ihm allein.

Jetzt, da sich die WM zu Ende neigt, frage ich mich: Was bleibt? Werden meine Kinder in dreißig Jahren über Russland 2018 reden wie ich über Mexiko 1986? Und vor allem: Ist vielleicht der Messias erschienen, aber ich habe ihn dem Alter geschuldet übersehen? Denkbar wäre sicherlich Kylian Mbappé, sein Antritt ist ganz eindeutig nicht von dieser Welt – aber hat er übernatürliche Kräfte? Kann er die Rotation der Erde verändern, vermag er in die Träume 10-Jähriger zu kriechen? Wird er, anders gesagt, an der WM 2050 besoffen auf der Tribüne schlafen wie Maradona jetzt in Russland? Ich kann es mir nicht vorstellen. Aber vielleicht ist ja genau das der Gottesbeweis, dass es das, was man sich nicht vorstellen kann, doch gibt.

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