Wie ist es, erhängt zu werden?

Alltagslektüre Mikael Krogerus lässt sich diesmal auf "Das neue Buch der verrückten Experimente" von Wissenschaftlern ein: Selbstversuch im Erhängen. In Sirup Schwimmen. Kreuzigungen

Was habe ich gelesen?

Das neue Buch der verrückten Experimente von Reto U. Schneider

Seitenzahl: 301 Seiten

Amazon-Verkaufsrang: 22.240

Warum habe ich es gelesen?

Reto U. Schneider, der Autor des Buches, ist mein ehemaliger Arbeitskollege beim NZZ Folio. Er hat mir das Buch geschenkt. Mit Widmung. Schauen wir dem geschenkten Gaul mal ins Maul.

Worum geht es?

Schneider hat sich in mühsamer Kleinstarbeit die Originalunterlagen alter, manchmal legendärer, meist skurriler Wissenschaftsexperimente angeschaut und erzählt sie kurzweilig, aber nie unseriös nach. Manche Experimente kennt man (Randy Gardners Weltrekord-Versuch im Nichtschlafen etwa oder das nervenaufreibende Vier-Karten-Problem. Die Experimente beantworten so großartige Fragen wie „Woran starb Jesus?“ (Frederick Zugibe, Gerichtsmediziner von Rockland County, kreuzigte Freiwillige um dies herauszufinden – er benutzte keine Nägel, sondern Manschetten, in denen die Hände fixiert werden konnten. Zwischen 5 und 45 Minuten hielten es die Versuchspersonen aus. Zugibes Fazit: Jesus starb an Herz- und Atemstillstand, verursacht durch hohen Blutverlust und traumatischen Schock.) Oder: „Wie ist es, erhängt zu werden?“ (Der rumänische Gerichtsmediziner Nicolas Minovici erhängte sich mehrfach selbst vor den Augen seiner Kollegen, die jeweils im letzten Moment einsprangen. Das Gefühl des Erhängens beschrieb der Wissenschaftler so: „Die Verletzungen des Halses als Folge der Experimente waren von einer großen Vielfalt. Die Frakturen von Kehlkopf und Zungenbein sind fast unvermeidlich. Nach dem letzten Experiment hatte ich einen Monat lang Schmerzen.“ Oder mein Lieblingsexperiment: „Wie schwimmt es sich in Sirup?“ (Brian Gettelfinger schwamm durch 650 000 Liter Sirup, um zu klären, ob es sich in Sirup schneller, langsamer oder gleich schnell schwimmt wie in Wasser. Ergebnis: Die Geschwindigkeit ist praktisch gleich, weil Sirup zwar einen größeren Widerstand, die Armbewegung darin aber auch eine größere Wirkung hat). So geht das über 300 Seiten.

Was bleibt?

Zwar liefern die meisten der Experimente Ergebnisse, auf die die Welt hätte verzichten können, aber dass sie überhaupt stattfanden, erzählt viel über die jeweilige Zeit und den Stand der Forschung. Das Besondere an dem Buch sind aber nicht die Experimente, sondern der Autor. Reto U. Schneider ist einer der letzten Journalisten, die sich noch die Mühe machen, genau hinzuschauen. Nachzufragen. Originalquellen zu konsultieren, statt Abstracts im Internet zu lesen. Einer, der die Forschungsleiter der abstrusen Experimente ausfindig macht und befragt, anstatt Artikel aus dem New Scientist abzuschreiben. Das Ergebnis sind Texte, die eine Geschichte erzählen; deren Inhalte sich nicht googeln lassen, weil sie auf Primärquellen beruhen. Kurz: Es sind Texte denen man vertraut. (Vermutlich ist Schneider auch einer der letzten Journalisten, die noch eine Bibliothekskarte besitzen).

Wie liest es sich?

Die Versuche handeln häufig von hochkomplexen Zusammenhängen, die Schneider hervorragend zusammenfasst, ohne zu langweilen oder fehlerhaft zu verkürzen. Die wenigen Male, die er sich zu unnötigen Wortspielen oder szenischen Eröffnungssequenzen versteigt, sieht man ihm nach.

Das beste (okay sagen wir: das typische) Zitat:

Die älteste Methode, Alkoholismus zu behandeln, hatte Plinius der Ältere im 1. Jahrhundert n. Chr. vorgeschlagen: Man lege einem Alkoholiker ein paar Spinnen ins Glas. Er konnte nicht wissen, dass er damit die Basis für die Aversionstherapie geschaffen hatte, bei der ein unerwünschtes Verhalten (Alkoholkonsum) mit einem unangenehmen Reiz (Spinnen im Glas) gekoppelt wird.

Wer sollte es lesen?

Die stillosen Wissenschaftsredakteure, die Tag für Tag ihre Seiten mit „Studien haben bewiesen, dass…“-Müll aus amerikanischen Zeitschriften füllen.

Was lese ich als nächstes?

One Day, David Nicholls

Die Alltagslektüre: In seiner Kolumne unterzieht Freitag-Autor Mikael Krogerus jede Woche ein Buch seinem persönlichen Lese-Check. Zuletzt: , Bruce Lipton und Steve Bhaerman

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