Wie soll man trauern?

Filmkolumne Der Film des Jahres 2010: "I will survive Auschwitz" ist ein Youtube-Film über einen Überlebenden, der mit seinen Nachkommen zurückkehrt und zu Gloria Gaynor tanzt

Was habe ich gesehen?
I will survive Auschwitz (2009) von Jane Korman. Laufzeit: 4 min 30.

Warum habe ich es gesehen?

Geplant war der nie veröffentliche Dokumentarfilm über die Stones, Cocksucker Blues, aber ich entschied mich kurzfristig für einen anderen – man verzeihe mir die Überleitung – Tanzfilm. I will survive Auschwitz wurde 2009 von Jane Korman, einer australischen Künstlerin, in einer Galerie in Melbourne gezeigt. Ein halbes Jahr später stellte sie ihn auf Youtube, einen Tag später hatten ihn 500.000 Menschen oder so angeklickt, einen Monat später verschwand er wieder (man munkelt von Urheberrechtsverletzungen), nun ist er wieder da. Ein Grund zum Feiern. Er ist für mich der Film des Jahres 2010.

Worum geht es?

Jane Korman ist mit ihrem 89-jährigen Vater Adam Kohn, einem Holocaust-Überlebenden, und ihren vier Kindern nach Auschwitz gereist. Dann hat sie die fünf zu Gloria Gaynors Discohit "I will survive" eine mehr oder wenige eingeübte Choreographie tanzen lassen. Auf der Rampe, vor den Verbrennungsöfen, in den Güterwaggons. Der Film ist sehr berührend, er ist auch sehr lustig. Im dritten Teil erlebt Kohn Flashbacks und ruft auf Polnisch aus dem Güterzug einer imaginierten Person etwas zu. Auf die Frage, warum er ständig lache, während er durch Auschwitz laufe, antwortet er später: "Hätte mir jemand hier vor 60 Jahren gesagt, ich würde einst mit meinen Enkeln wieder herkommen, hätte ich ihm gesagt, 'wovon redest du?'. Und jetzt bin ich hier! Wie viele können das, ein Prozent? Weniger als ein Prozent!"

Was bleibt?

Es gab eine Riesendebatte um den Film. Die deutschen Medien feierten ihn ab, die jüdischen waren gespalten, die amerikanischen auch. Für die einen war es ein befreiender Akt, für die anderen ein paar Australier, die auf Gräbern tanzten. Die bizarre Debatte lässt sich in dem Satz zusammenfassen: Darf man das? Der Film stellt aber im Prinzip eine andere sehr einfache Frage: Wie soll man trauern? Wer schon einmal einen geliebten Menschen verloren hat, weiß, dass es darauf keine einfache Antwort gibt. Der tanzende Adam Kohn bietet nun in dem kleinen Filmchen seiner Tochter eine an. Wenn ich es richtig verstanden habe, geht es in der jüdischen Tradition – vereinfacht gesagt – um den Triumph des Lebens über den Tod, des Diesseits über ein Jenseits und, vielleicht, auch um den Triumph des Feierns über die Trauer. Natürlich darf man trauern. Aber irgendwo im Talmud steht der Satz: zu viel trauern mache krank. Zu lange zu zurückblicken, zu viel zu hadern, zu lange im Gestern zu verweilen führe dazu, dass wir uns in der Vergangenheit verlören. Die Erinnerung ist nicht, wie bei Sartre, ein Paradies, es ist ein Gefängnis. Ich kann verstehen, dass manche den Film geschmacklos finden, aber die fröhliche, uneitle Art, wie die Familie Kohn an diesem Ort des Schreckens einfach tanzt, hat etwas Unwiderstehliches. Ich hätte nie gedacht, dass ich diesen Satz je schreiben würde, aber dieser Film ist lebensbejahend.

Der Film in einem Satz:

It took all the strength I had not to fall apart /
Kept trying' hard to mend the pieces of my broken heart /
And I spent oh so many nights /
Just feeling sorry for myself. I used to cry /
But now I hold my head up high.

Wer sollte ihn sehen?

Alle, die mit dem Leben hadern.

Was sehe ich als nächstes?

Cocksucker Blues, wirklich.

Unser Kolumnist Mikael Krogerus sieht sich jede Woche einen Film an. Vergangene Woche sah er

Gimme Shelter

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