Es war der erste warme Tag in Berlin seit drei Jahren und vor dem schönen Babylon-Kino standen erfolgreiche Eltern mit ihren bilingualen Babies und sprachen über Flugverbote. Der Himmel war blau, die Cafés voll. Ein Sonntag. Nur einige störten die stilsichere Uniformiertheit – Menschen, wie man sie hier selten sieht: ein bisschen dicker, ein bisschen verschrobener, ein bisschen neugieriger – und damit insgesamt: ein bisschen interessanter. Sie sind die Protagonisten eines bemerkenswerten Films: Kennzeichen Kohl – ein Film über fünf Männer in Deutschland, deren gemeinsamer Nenner ihr Name ist: Helmut Kohl. Und sie alle waren zur Berliner Vorführung angereist.
Da war der alte Helmut Kohl aus Wolfen, der durch die Einheit fast alles verloren hatte bis auf seine lakonische Zuversicht. Dann der gebürtige Österreicher Helmut Kohl: Ein Opernliebhaber mit Villa auf Mallorca, der sich mit Investitionen in den neuen Bundesländern beinahe ruiniert hatte. Der jüngste Helmut Kohl kam aus einem 680-Seelen-Dorf in Rheinland-Pfalz: ein fleißiger Mann, der in seiner Freizeit Tannenbäume anbaut. Oder Helmut Kohl aus Crimmitschau in Sachsen, ein Wirt, dem es gut geht, aber „früher war alles besser“. Der deutscheste aller Helmut Kohls war ein lustiger Spätaussiedler aus Oberschlesien, der mit seiner Frau glücklich auf 30 Quadratmetern lebt, Mercedes verehrt wie andere den Dalai Lama, und im Schrebergarten die Deutschlandfahne hisst.
So ist Deutschland
Tja, so ist Deutschland, denkt man. Aber wer macht so einen Film? Jean Boué ist in der deutschen Filmszene kein Unbekannter. Boué hat sich an Helmut Kohl „abgearbeitet“, wie er sagt. Kohl, das sei das Allerschlimmste gewesen: „ein provinzieller Elefant, gnadenlos, ignorant“. Lange Zeit machte sich Boué als Redakteur bei Extra 3 satirisch lustig über „Birne”, jetzt hat er sich dem Überthema mit der Frage genähert: Wenn Helmut Kohl uns die Einheit gebracht hat, was hat dann die Einheit Helmut Kohl gebracht? Die Antwort ist ein berührendes Porträt der Nachkriegsgeneration, die letzte, die „noch internetfrei und nicht-globalisiert“ aufwuchs, in dem sicheren Glauben, alles richtig zu machen und jetzt merkt, dass es vielleicht doch anders kommt.
Im Kino saßen die Kohls vorne rechts, die restlichen Zuschauer mittig hinten. Ein bisschen wirkte es wie die Vorführung eines Tierfilms, bei der die Tiere gleich mit im Saal sind. Immer wieder blicken wir auf sie. Denn fast spannender als der Film war die Reaktion der Protagonisten. Frau Kohl aus Crimmitschau schlug sich jedesmal die Hände vors Gesicht, sobald sie auf der Leinwand auftauchte. Und prustete los, sobald sie im Film den Mund aufmachte. Die beneidenswerte Fähigkeit, herzlich über sich selbst zu lachen, steckte an, bald lachten alle Kohls – im Gegensatz zum Film.
Was sah man dort sonst? Betondepression, Vereinsheim, Autowaschen, Schrebergarten, Neureichtum, Sauerbraten. Die Helmut Kohls liefern das, was man erwartet. (Zum Glück. Insgesamt schätzt man es ja, wenn die eigenen Vorurteile bestätigt werden). Aber Boués liebevoller, doch gnadenlos ehrlicher Blick ruht so lange auf den Protagonisten, bis sich aus den Klischees Geschichten formen.
Die gleiche Selbstgerechtigkeit
Die fünf Kohls sind natürlich sehr unterschiedlich. Jeder hat sich seine Narration um das eigene Leben konstruiert, die es erträglich macht. Und doch gibt es Gemeinsamkeiten. Sie alle – da mag man mir noch lange weismachen, es gäbe zwischen Ossis und Wessis unüberbrückbare Unterschiede – strahlen diese „kohlsche“ Selbstgerechtigkeit aus, die sich wohl aus der Tatsache speist, es eigenhändig vom Nachkriegselend ins Wirtschaftswunder geschafft zu haben. Im Film kann man die Ingredienzien dieses Wunders in Reinkultur betrachten: Mit einer an Lustfeindlichkeit grenzenden Genügsamkeit und Hingabe gehen die Kohls ihren Tätigkeiten nach. Man füttert den Sittich, staubsaugt den staubfreien Innenraum seiner A-Klasse, schiebt pflichtbewusst den Bruder im Rollstuhl: Alles wird nach Dienstvorschrift ausgeführt. In Deutschland ist der Mensch dem Menschen kein Wolf, sondern ein Polizist.
Der Film stellt ein paar der ganz große Fragen, und die Kohls geben etwas verwundert, aber bereitwillig Auskunft: Was ist wirklich wichtig? (Die Familie) Was ist Heimat? (Der Ort, wo ich geboren bin). Was bedeutet Ihnen Deutschland? (Nicht viel). Und dann relativ unvermittelt: Sind Sie glücklich? Nachdem die Protagonisten über alles ein wenig gemosert hatten, sagten sie unisono: Wir sind glücklich. Oder wie es der jüngste Kohl formulierte: „Ich kann mich nicht erinnern, dass ich je unglücklich war. Also bin ich wohl glücklich“.
Immer Fleisch zu Mittag
In einem der stärksten Momente sieht man die fünf Familien in fünf Szenen beim Mittagessen. Es gibt immer Fleisch, als Beilage immer Kartoffeln, immer hat die Frau gekocht. Und immer ist es der Mann, der redet. Selbst der wortkarge Helmut Kohl aus Wolfen schafft es, in dem einzigen Moment, in dem seine Frau etwas sagen will, ihr über den Mund zu fahren. Überhaupt die Frauen. Wenn es stimmt, dass man den prominenten Helmut Kohl nur in seiner Bizarr-Beziehung zu Hannelore versteht, dann lohnt es sich, die Frauen der Kohls anzusehen: die prustend-lachende Kohl aus Crimmitschau schien noch was herzugeben (ihr Mann gab auch unumwunden zu, dass sie das Geschäft führe). Die anderen: Stumme Köchinnen, unsichtbare Hausfrauen, nette Nebendarstellerinnen.
Nach dem Film gab es Brezeln und fruchtigen Pfälzer Weißwein. Die Kohls wirkten im Film so unverstellt und so archetypisch, dass man mit ihnen sprach, wie mit langjährigen Nachbarn: Wie geht es Ihrem Bruder? Hat Ihre Frau einen Job gefunden? Die Situation hatte etwas Familiäres. Und plötzlich war da dieser Verdacht: Wir sind alle ein bisschen Helmut Kohl.
Gegen Ende des Films sitzt einer der Kohls im Zug. Er schaut aus dem Fenster: Ackerbauflächen, vereinzelte Wohnhäuser, zersiedelte Landstriche – er sagt: „Wenn man Deutschland nur vom Zug aus sehen würde, würde man nicht meinen, es sei ein schönes Land.“ Wenn man Deutschland anhand dieser fünf Kohls verstehen wollte, würde man nicht meinen, es sei ein fröhliches, lebenswertes Land.
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