Film „Gimme Shelter“ dokumentiert Stones-Konzert in Altamont: Zu Tode geschützt

52 Filme - 52 Wochen "Gimme Shelter" dokumentiert das legendäre Stones-Konzert in Altamont '69: Ein Mann wird von den Hells Angels erstochen und die Hippiebewegung verliert sich selbst

Was habe ich gesehen?
Gimme Shelter (1970), Laufzeit: 93 min.

Warum habe ich es gesehen?
Auf dem Plan stand The Sound of Music – das superkitschige Familienmusical um die Trapp-Familie und den Star unter den Au-Pair-Mädchen: Julie Andrews. Der Videodealer meines Vertrauens schaute mich entsetzt an, als ob ich vorgeschlagen hätte, seine Tochter auszuleihen. Um nicht mein Gesicht zu verlieren, griff ich schnell nach Gimme Shelter und versuchte, mein Fragen nach The Sound of Music als einen superionischen Witz darzustellen.

Worum geht es?
Um das Gratis-Konzert in Altamont 1969, das zum Menetekel der sich immer weiter von sich selbst entfernenden Hippie-Bewegung werden sollte. Intendiert war das „Woodstock des Westens “, 300.000 Hippies strömten am jenen 9. Dezember zur Altamont Rennbahn, 80 Kilometer östlich von San Francisco, um die vielleicht größte Band der damaligen Zeit zu sehen: die Rolling Stones. Es wurde kein zweites Woodstock, es wurde eine Tragödie. Am Ende des Konzerts waren vier Menschen tot und die Stones flohen in einem Helikopter von Altamont wie von einem Tatort.

Was war passiert?
Die Sicherheitsvorkehrungen waren unvorstellbar; auf Anraten der Grateful Dead hatten die Stones die Hells Angels als Security gebucht (angeblich erhielten sie als Lohn Freibier im wert von 500 Dollar). Weil es vor der Bühne keinerlei Absperrungen gab – in der vielleicht besten Szene des Films sehen wir sogar einen Hund an Mick Jagger vorbeilaufen – stellten die Hells Angels ihre Motorräder als eine Art Schutzwall vor der Bühne auf. Die Gang war schon nach kurzer Zeit alkoholisiert oder unter Drogeneinfluss. Mit abgesägten und durch Bleigewichte verstärkten Billardqueues prügelten sie auf die ebenfalls deutlich unter Drogen stehenden Zuschauer ein, sobald diese sich den Motorrädern näherten. Auch der Sänger von Jefferson Airplane, Marty Balin, wurde niedergeschlagen. Das ganze roch nach Alptraum lange bevor die Stones überhaupt auf der Bühne waren.

Nach jedem Song musste der sichtlich verunsicherte Jagger abbrechen, weil es zu Massenschlägereien vor der Bühne kam. Er drohte damit, abzubrechen und spielte doch weiter. Wie das Orchester beim Untergang der Titanic. Die Gewalt mündete schließlich im Tod eines Jugendlichen. Während "Under My Thumb" rannte der mit Amphetamin vollgepumpte 18-jährige Meredith Hunter Richtung Bühne, in der Hand eine Schusswaffe. Sofort wird er vor den Augen der Band (und der Kamera) von einem Mitglied der Hells Angels, Alan Passaro, mit einem Messer niedergestochen und anschließend von anderen Angels zu Tode getreten. Wir sehen Hunters Leichnam, seine Freundin, den Täter (der später freigesprochen wird). Es starben noch drei weitere Menschen: Zwei bei einem Autounfall, ein dritter ertrank in einem Kanal.

Was bleibt:
Das Große an Gimme Shelter ist, dass er uns in wenigen Sekunden in eine andere Zeit versetzt. Die Sprache, die Kleidung, die Autos, die Musik, die Menschen, die Entrücktheit, dann die Gewalt – der Film ist ein ebenso verführerisches wie schockierendes Zeitdokument. Und es ist auch ein verflucht guter Dokumentarfilm. Ohne Erzählstimme, ohne nervige „Enthüllungen“, ohne Interviews, ohne moralisierende Schlüsse. Die Regisseure machen im Film einen kleinen Kunstgriff, indem sie Watts und Jagger dabei filmen wie sie die folgenden Szenen später im Schnittraum betrachten. Wir sehen also die Protagonisten beim Betrachten ihrer eigenen Katastrophe. Die Stones kommen nicht gut weg, die Fans auch nicht und auch die Angels nicht. Wer schuld war? Der Film gibt keine Antworten, er stellt genau genommen auch keine Fragen, er lässt uns einfach gemeinsam mit Watts und Jagger zusehen, wie die Katastrophe ihren Lauf nimmt.

Wie waren die Stones?
Großartig. Sie spielten wie junge Götter und sahen auch ungefähr so aus. Sie waren eine Hommage an die Androgynität, und der Kontrast zwischen ihnen und den Biersaufenden, bulligen Hells Angels ist ein Bild für die Ewigkeit. Genauso wie nichtssagenden, hilflose Kommentare von Jagger am Ende („Oh my God“, „It´s horrible“).

Was sagt meine Frau?
„Ziemliche uninteressante Geschichte, aber als Zeitdokument vielsagend: die Leute sind dreckig, ungewaschen, nicht intim rasiert, rauchen. Ein interessanter Kontrast also zu unserer sterilen Lifestyle-Zeit, in der häufiger nach Gesundheitsartikeln als nach Pornographie gegoogelt wird.“ (That´s my girl!)

Was sehe ich als nächstes?
The Sound of Music, vielleicht aber den wirklich wahren, bis heute verbotenen Stones-Film: Cocksucker Blues.

Unser Kolumnist Mikael Krogerus sieht sich jede Woche einen Film an. Vergangene Woche sah erŽižek!

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