Auf der Suche nach Mohammad

Im toten Winkel der Erinnerung Die Begegnungen mit dem Nationalsozialismus belasten das jüdische und arabische Kollektivgedächtnis

Über Mohammad Bouayad, Kaufmann aus Rabat, Marokko, weiß man, dass er am 8. Mai 1941 in Paris von der deutschen Sicherheitspolizei verhaftet wurde. Sicher ist auch, dass er am 24. Januar 1944 als politischer Häftling ins KZ Buchenwald eingeliefert, und am 24. April 1945 in Mauthausen vergast wurde. Bis jetzt war aber nicht mal bekannt, dass Araber überhaupt in KZs waren.

Kolonialistisches Vergessen

Auf einer Liste im Bundesarchiv Berlin sind 1130 "Häftlinge islamitischen Glaubens" verzeichnet. Heinrich Himmler ließ sie 1944 anfertigen, um eine Waffen-SS-Einheit zu verstärken. Die SS-Liste legte die Spur zu Menschen, die fast 60 Jahre im "toten Winkel der Erinnerung" waren, wo man vorher auch andere NS-Opferminderheiten wie Homosexuelle, Zeugen Jehovas und Roma vergessen hatte. Professor Gerhard Höpp, Islamwissenschaftler am Zentrum Moderner Orient in Berlin, hatte diese Liste zufällig entdeckt, und sich bei der Arbeit am Projekt "Arabische Begegnungen mit dem Nationalsozialismus" wieder an sie erinnert.

Hauptursache für das Vergessen sei die "kolonialistische Codierung" gewesen, sagt Professor Höpp. Die Kolonialmächte hatten die Bevölkerung der eroberten Gebiete zu staatlich anerkannten Untertanen gemacht. Ihre eigentliche Identität wurde durch die koloniale verdeckt. Wurden sie gefangen, galten sie nicht als Araber, sondern als Franzosen oder Engländer. Sie hinterließen keine Selbstzeugnisse. Sie haben von ihrem Leiden auch niemandem erzählt. Weshalb schwiegen sie? "Wir haben auch herumgerätselt," erklärt Professor Höpp, aber von der Demütigung der KZ-Haft zu erzählen, sei in einer durch und durch patriarchalischen Gesellschaft unwahrscheinlich. "Es kann auch sein, dass die Erinnerungen durch die Opfer des Algerienkrieges verschüttet wurden." Aber innerhalb der Opfergruppen des 20. Jahrhunderts verschwinden selbst die 40.000 toten Algerier hinter den 6 Millionen ermordeten Juden.

Insgesamt identifizierte Professor Höpp in mühevoller Kleinarbeit namentlich etwa 450 arabische Häftlinge in den KZ-Archiven, meist im Alter zwischen 20 und 40 Jahren. Darunter waren wenige Frauen - meist Französinnen, die farbige Arbeitsmigranten geheiratet hatten und deren Namen trugen. Viele Dokumente sind vernichtet, und nicht alle Häftlinge wurden erfasst. So können es zwei bis vier Mal mehr gewesen sein. Gegenüber den hundert Tausenden Zwangsarbeitern oder Kriegsgefangenen könne man eher den Überblick behalten. Einzelschicksale bleiben trotzdem meist im Dunkeln. "Man kann nur sagen in Bordeaux festgenommen, da gibt es einen Hinweis - unterstrichen auf der Personalkarte - Gestapo Bordeaux, dann und dann nach Compiègne gebracht", sagt Professor Höpp. Von diesem zentralen Polizeihaftlager" wurden alle muslimischen und christlichen Araber auf die Lager verteilt. Die jüdischen Araber kamen nach Drancy, obwohl nicht jeder als Jude erkannt wurde und so der "Sonderbehandlung" entging. Jeder Fünfte starb im KZ.

In allen KZs saßen arabische Häftlinge. Die meisten kamen aus Algerien und Marokko, und arbeiteten vorher in Frankreich. Darunter waren nur wenige Bauern, einige Intellektuelle, aber viele Hilfs- und Facharbeiter. Einige dienten in der französischen Armee, als der Zweite Weltkrieg ausbrach, und gerieten in Kriegsgefangenschaft. In den "Stalags", den Stammlagern für Kriegsgefangene in Österreich und Deutschland, waren etwa 10.000 Nordafrikaner inhaftiert. Andere wurden in "Schutzhaft" genommen, weil sie als sogenannte Rotspanier gegen Franco gekämpft hatten, weil sie der Résistance angehörten oder nur verdächtig waren ihr anzugehören. Einige wurden auch "zur Wahrung der Reinheit deutschen Blutes" verhaftet. Dazu gehörten auch die sogenannten "Rheinlandbastarde", Kinder von farbigen Soldaten der französischen Armee und deutschen Frauen, obwohl der Leiter des Rassepolitischen Amtes, Walter Groß, gegenüber dem ehemaligen irakischen Ministerpräsidenten Raschid Ali al-Gailani noch 1942 erklärt hatte, dass "Araber Angehörige einer hochwertigen Rasse" seien.

Mit dem "Endsieg" zur Unabhängigkeit

Angesichts der arabischen Opfer blieb die Kollaboration arabischer Nationalisten mit dem faschistischen Italien und dem nationalsozialistischen Deutschland besonders dramatisch im Gedächtnis der Welt - und besonders der Juden - haften. Die arabische NS-Connection entstand weniger aus ideologischer Nähe als vielmehr aus dem Kalkül, den Bewegungsradius im nationalen Befreiungskampf zu erweitern. Am bekanntesten ist wohl Amin al-Husseini, Mufti von Jerusalem, der vom britischen Hochkommissar Herbert Samuel 1921 zum Großmufti ernannt wurde. Er stammte aus einer der tonangebenden arabischen Familie in Jerusalem, und sollte als Großmufti die religiösen Angelegenheiten verwalten, Richter und Geistliche ernennen. Sein weiteres Amt als Präsident des Obersten Moslemrates nutzte er, um eine radikale Nationalbewegung zu organisieren, die über Palästina hinaus wirksam war.

1917 hatte der britische Außenminister Arthur James Balfour in einer gleichnamigen Deklaration das Wohlwollen "Seiner Majestät" gegenüber der zionistischen Bewegung ausgedrückt, und versprach, den Juden zu helfen, eine "nationale Heimstätte in Palästina" zu errichten. Am 3. November 1918 offenbarte sich zum ersten Mal der politische Nationalismus der Palästinenser in Form einer Protestnote an den britischen Militärgouverneur Sir Ronald Storrs und in der Gründung der ersten "Islamisch-Christlichen Vereinigung" in Jaffa. Im August 1928 inszenierte Amin al-Husseini Steinwürfe auf betende Juden an der Klagemauer als "Aufstand zur Rettung der Mauer". Das war das Signal für die radikalen Zionisten um Wladimir Jabotinsky, der nicht nur eine Heimstätte für Juden, sondern einen jüdischen Staat verlangte.

Mitte der dreißiger Jahre verschärfte sich der Konflikt, weil nach Hitlers Machtergreifung immer mehr jüdische Flüchtlinge nach Palästina auswanderten. Zwischen 1932 und 1935 verdoppelte sich die jüdische Bevölkerung. Während der arabischen Aufstände von 1936 bis 1939 wurde der britische Bezirkskommissar von Galiläa erschossen, und Husseini floh vor den Briten in den Libanon. Über Bagdad erreichte er Berlin, wo ihn Hitler 1941 empfing. In den Folgejahren erwarb er sich den Ruf eines antisemitischen Scharfmachers, und verließ Deutschland erst kurz vor der Kapitulation. Möglicherweise hat er in dieser Zeit auch KZs besucht, in denen seine Landsleute oder Glaubensbrüder eingesperrt waren. Seine Hoffnung, die Feinde seiner Feinde würden den Arabern nach dem "Endsieg" die nationale Unabhängigkeit ermöglichen, wurde zwar von deutscher Seite inoffiziell geschürt, hatte jedoch keine reale Grundlage. Ab 1946 wieder in Kairo, mischte Husseini erfolglos im israelisch-arabischen Krieg mit, und flüchtete nach dem Putsch gegen König Faruk 1952 aus Gaza in den Libanon.

Amin al-Husseini starb 1974 in Beirut. Figuren wie er gelten als Symbol für die Kollaboration der Araber, auch wenn ihr Einfluss marginal war. Weder in den palästinensischen Flüchtlingslagern noch von PLO-Seite wird an ihn erinnert. "Er spielt eher im israelischen Kollektivgedächtnis eine Rolle", erklärt Karin Joggerst, die an der FU Berlin erforscht, wie Israelis und Palästinenser die Erzählung des Konflikts jeweils zur Selbstvergewisserung nutzen. Die Israelis halten das Bild von der Nur-Kollaboration der Araber aufrecht, die Palästinenser, die sich in der Diaspora als Opfer des israelischen Eroberungswillens sehen, bagatellisieren dagegen die arabische Kollaboration und die jüdischen Opfer.

Nestbeschmutzer

Aber auch der Staat Israel und seine Bürger interessierten sich lange Zeit nicht für die Details des jüdischen Überlebens während der Shoa. "Man hat sich geschämt für den Holocaust, für die Schwäche", sagt Tom Segev, einer der sogenannten "neuen Historiker" in Israel, die sich mit den toten Erinnerungswinkeln nicht mehr abfinden wollen. Palästinensische Intellektuelle wie Edward Said, Salah Abd el-Jawad, Azim Bishara und andere verfolgen die neue jüdische Forschungen als auch die Geschichte der Palästinenser aus kritischer Distanz. Erst nachdem sich Mitte der achtziger Jahre in Europa und Israel die Archive öffneten und anerkannte Historiker die jeweils dominanten Kollektiverzählungen mit der Aktenlage konfrontierten, entwickelte sich einerseits die "Nestbeschmutzerdebatte", in den israelischen Schulbüchern finden sich andererseits auch erstmals palästinensische Dichter.

Ob die Mythen den Konflikt weiterhin speisen und der Konflikt die Mythen, bleibt fraglich. Die wissenschaftlich belegten Nazi-Opfer auf arabischer Seite finden irgendwann ihren Weg in die Gedenkstätten, genau so wie ausländische Delegationen und Migranten aus diesen Staaten. "Da sind die Mitarbeiter der Gedenkstätten froh, wenn sie sagen können: Hier, in Baracke 60, ist der und der Algerier dann und dann umgebracht worden", erzählt Professor Höpp. Auch türkische Schüler fühlen sich eher angesprochen, wenn das Opfer Ali geheißen habe.

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