Belgrad, 5. Oktober

MEDIENTAGEBUCH Index Radio

Nach drei Stunden Schlaf (den Großteil der letzten Nacht habe ich auf den Straßen verbracht) wache ich auf und höre zum Frühstück Index Radio, den einzigen unter den Sendern, die relevante Informationen verbreiten, dessen Frequenz ich finden kann. Radio Free B92 kann ich nicht empfangen, und das Staatsfernsehen schauen wir in dieser Stadt nicht mehr, seit sämtliche unabhängigen Radiosender und das Studio B vom (jetzt Ex!)-Regime geschlossen wurden. 15 Jugoslawische TV-Kanäle, die nur Lügen und Milosevic genehme Information verbreiten. Unsere Informationswege sind seither vor allem das Internet und die Handys. Natürlich wird Radio Index oft gestört, so dass ich mur mitkriege, dass es heute keinen Strom geben wird. Während ich am Computer schnell nach neuen Emails und Informationen für die heutigen Aktionen schaue, klingelt das Handy. Ein Freund aus Cacak teilt mit, sein Bruder befinde sich in einem Konvoi von Autos, Lastern und Bussen auf dem Weg nach Belgrad, der bereits zwei Polizeiblockaden durchbrochen habe. Die Polizisten seien von der Strasse gefegt. Ein erster Sieg... Wir wollen uns in einer Stunde vor dem Parlament treffen. Zusammen mit meiner Schwester brechen wir auf ins Stadtzentrum.

Da keine Busse fahren, beschließen wir zu trampen. Ein alter Skoda hält an, und wie es der Zufall will, sitzt in ihm ein guter Freund von mir, ein Priester, dessen Frau heute entbinden soll. Unter Küssen und Geschrei fahren wir zur Brücke, lassen das Auto stehen, denn der Vater in spe muss heute noch eine Menge erledigen und will nicht im Stau stecken bleiben.

Im Zentrum angekommen erkenne ich sofort den mir wohlbekannten Geruch und denke an 1991, an das Tränengas und die Panzer in den Straßen. Auch jetzt sehe ich Menschen, die sich mit Tüchern das Gesicht verhüllen, um sich vor dem Gas zu schützen. Wir sind zehn Fußminuten weit weg vom Parlament. Der Konvoi aus Cacak ist angekommen und auf dem Weg dorthin.

Meine Schwester und ich hasten zum vereinbarten Treffpunkt, können aber niemanden finden. Wir brauchen Informationen - Zeitungen sind in dieser Situation viel zu langsam, die Handys funktionieren nicht immer, der Freund, den wir treffen wollten, führt ständig ein Transistorradio bei sich. Wir betreten den Buchladen, in dem sie arbeitet, und entdecken dort drei Polizisten mit Säcken voller Konserven und Brot. Offensichtlich haben sie vor, hier länger zu bleiben. Während ich im Flur stehe und rauche, versuche ich, meinen Freund aus Cacak anzurufen, aber ich komme nicht durch. In diesem Moment stürmt ein Spezialkommando der Polizei das Gebäude. Der Kommandeur läuft an mir vorbei und mustert meine Trillerpfeife und Abzeichen. Auch der zweite starrt mich an, aber schon der dritte kann ein Lächeln nicht verbergen und zwinkert mir zu. Ich hatte keine Sekunde Angst. Und das, obwohl mir sonst die Knie zittern, wenn ich zwei Polizisten auch nur in Hundert Meter Entfernung sehe. Sie rennen zum Aufzug und beziehen oben ihre Position. Übrigens ist es das Gebäude, in dem der unabhängige B92-Sender seinen Sitz hatte, bevor Milosevics Schergen ihn besetzten.

Auf dem Platz vor dem Parlament befinden sich inzwischen Tausende von Menschen. Wir versuchen, zum legendären Konvoi vorzudringen. Vergebens suche ich meinen Freund. Ausserdem fällt mir ein, dass ich nichts habe, was ich den Menschen im Konvoi geben könnte. Es ist eine alte serbische Tradition, den Gästen etwas anzubieten. Es muss entweder Kognac oder Brot und Salz sein. Brot habe ich keins, aber Kognac könnte ich irgendwo finden. Ich bahne mir einen Weg durch die Menge auf der Suche nach einem Laden, aber wegen des Streiks ist überall geschlossen. Zum Glück finde ich einen geöffneten Kiosk, und da sie dort keine Literflasche haben, erstehe ich 5 kleine Fläschchen.

Auf einem LKW erblicke ich einen alten Bekannten, der als Kameramann beim BK-TV arbeitet. Er ist hier mit offiziellem Auftrag. Das bedeutet, die Dinge ändern sich. Es kommt Bewegung in die Menge. Wir hören Explosionen. Rauchwolken steigen auf. Die Menschen stürmen das Gebäude, weichen wieder zurück. Immer schwerer und schwerer wird der Rauch, er brennt in den Augen und ätzt die Lungen. Manch Unerfahrener muß sich übergeben. Wir, die Erfahrenen holen im Park nebenan frische Luft; ich nehme meine Wasserflasche aus dem Rucksack. Sofort kommt ein Mann herbei und gibt mir ein Handtuch, dass wir benässen und zerteilen für diejenigen, die keines haben. Weitere Tränengasbomben beenden usnere kleine Pause. Wir fliehen zu einem Freund, der zwei Straßen weiter wohnt.

Wir waschen dort unsere Gesichter. Die Handys funktionieren nicht, und so hören wir Radio Index. Im staatlichen Fernsehen immer noch nichts! Kanal 2 bringt ein Fußballspiel, ich sehe einen Kolumbianer ein tolles Tor schießen, kann aber seine Nummer nicht erkennen. Dann hören wir, dass die Polizeistation 50 Meter weiter besetzt wurde. Ich gehe aufs Dach, kann aber nichts sehen vor lauter Rauch und Tränengas. Im Parlament scheint es zu brennen.

Wieder unten auf der Straße erfahre ich, dass es die Fans meines Fußballclubs Partizan sind, die die Station gestürmt haben, die Polizisten geben auf. »Blau, Blau« schreien die Menschen - es ist die Farbe der Polizistenuniform, aber auch des Fußballclubs.

Mittlerweile ist es fünf Uhr. Trotz des Getümmels finde ich meine Freundin, die mir mit roten Augen erzählt, wie sich die Menschen aus dem Konvoi zum Gebäude des Staatsfernsehen aufmachten. Zurück in der Wohnung hören wir im Radio von Verhandlungen mit Armee und Polizei. Und dass das Fernsehen erobert wurde! Wir machen uns auf den Weg. Dicker Rauch überall, das Tränengas brennt in unseren Augen. Doch langsam beruhigt es sich...

Die erste offizielle Nachricht von unserem Sieg hören wir spät am Abend, als wir in einer Kneipe die erste Mahlzeit dieses Tages zu uns nehmen. Alle TV-Sender sind erobert! Radio B 92 ist in der ganzen Stadt zu hören, ohne Störungen. Und die Kirsche auf dem Kuchen ist schließlich etwas bis dahin Unvorstellbares: der neugewählte Kostunica im Staatsfernsehen.

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