Christina Dalcher hat eine Vorahnung. In einer nahen Zukunft werden die USA von einem christlich-konservativen Regime regiert. Frauen dürfen nicht mehr als einhundert Worte am Tag sprechen. Schwule, Lesben, Transgender und alle anderen queeren Menschen werden in Arbeitslagern untergebracht. Dort zwingt man sie, heterosexuell zu leben. Minutiös beschreibt US-Autorin Dalcher auch das Desinteresse, mit dem der Rest der Gesellschaft diese Entwicklungen verfolgt. Da „lümmelt“ der Familienvater „auf seinem gewohnten Sessel herum, eine Hand in einer Schüssel Popcorn, die andere beim Texten auf dem Handy“, während im Fernsehen weitere Einschränkungen der Rechte seiner Frau verhandelt werden.
Der Roman Vox ist Teil einer Welle feministischer Dystopien, die im vergangenen Jahr auf dem Buch- und Filmmarkt erfolgreich waren. Aber kurz vor den Zwischenwahlen scheint er plötzlich mehr als nur Fiktion.
Nur noch zwei Geschlechter
Vergangene Woche wurde bekannt, dass das US-Gesundheitsministerium offenbar die offizielle Anerkennung von Transpersonen rückgängig machen will. Die New York Times bekam ein internes Papier zugespielt, nach dem das Geschlecht im US-Recht neu definiert werden soll. Einzig die Geschlechtsteile, die ein Mensch bei Geburt habe, sollten darüber entscheiden, ob er männlich oder weiblich sei. Im Laufe des Lebens wäre dieses festgelegte Geschlecht nicht mehr veränderbar. Bei Uneindeutigkeiten entscheide ein Gentest. Schon Ende des Jahres soll die Gesetzesänderung dem Justizministerium vorliegen. Die Idee kommt von Roger Severino, Leiter des Referats für Bürgerrechte im Gesundheitsministerium und Ex-Mitarbeiter des konservativen Thinktanks Heritage Foundation.
Das neue Gesetz ist eindeutig ein Nischenthema: Deutlich weniger als ein Prozent der Menschen in den USA sind Transgender. Aber es ist auch der größte Rückschlag gegen die Errungenschaften des queeren Feminismus der letzten Dekade und ein erster Sieg im Kulturkampf der Rechten gegen linke Identitätspolitik.
Dass Donald Trump nicht viel von den Rechten sexueller Minderheiten hält, ist natürlich nicht neu. Obamas Weisung, nach der Umkleidekabinen und Toiletten von Schulen und Universitäten dem sozialen Geschlecht entsprechend benutzt werden dürfen, wurde im vergangenen Jahr annulliert. Im August 2017 versuchte Trump, Transpersonen vom Militärdienst auszuschließen. Letzteres ging glimpflich aus, die Anordnung scheiterte vor Gericht. Überhaupt lässt sich sagen: Transpersonen geht es immer besser. Zwar gibt es immer noch Länder, in denen die rechtliche Situation sehr kompliziert ist. Doch in demokratischen Staaten hat sich ihre Situation deutlich verbessert. Der Trans Rights Europe Index der Organisation Transgender Europa verzeichnete im letzten Jahr 21 Länder, in denen keine Sterilisation für eine offizielle Transition, also Änderung des Geschlechtseintrags im Pass oder Ausweis, nötig ist. In diesem Jahr sind es schon 27 Länder.
Selbst in den USA überwiegen die Erfolge und Meilensteine. Obama erlaubte Transpersonen ihren Geschlechtseintrag auf der Sozialversicherungskarte ändern zu lassen, wenn sie eine Bescheinigung des Arztes vorweisen können und eine entsprechende klinische Behandlung planen. Die Kosten für eine geschlechtsangleichende Operation werden noch immer teilweise von der staatlichen Krankenkasse übernommen.
Nicht nur die Erfolge lassen sich auf die letzten zehn Jahre datieren. Eine queere Bewegung, die für ihre Rechte kämpft, sei überhaupt noch sehr jung, sagt Maren Lorenz, Professorin für Geschichte der Frühen Neuzeit und Geschlechtergeschichte an der Ruhr-Universität Bochum. Aber gerade weil die Errungenschaften so neu sind, scheint der Backlash umso härter.
Schon einmal wies die Geschichte eine unheimliche Parallele zu Vox auf. So blühte in den urbanen Zentren Berlin und Paris in den 1920er Jahren eine ausschweifende und facettenreiche queere Kultur, die dann vom Faschismus verdrängt wurde.
Die australischen Autoren Dennis Altman und Jonathan Symons setzen sich in Queer Wars (Wagenbach 2017) mit den Kämpfen in der Weltgeschichte auseinander. Sie schreiben darüber, wie der Umgang mit LGBT*IQ-Rechten als politisches Instrument eingesetzt wurde und wird. Dazu zählt zum Beispiel der Angriff von George W. Bush auf die gleichgeschlechtliche Ehe während seiner Wahlkampagne.
Aber auch außerhalb von Wahlkämpfen lassen sich Rückschritte für die queere Community ausmachen. In Russland ist es seit 2013 verboten, sich positiv über Homosexualität zu äußern, wenn Kinder anwesend sind. Nach dem Gesetz gegen homosexuelle Propaganda drohen sonst hohe Bußgelder.
Die Angst vor dem Anderen vermehrt sich also vielerorts. Politische Kampagnen spielen mit der Sehnsucht nach einer geordneten, zweigeschlechtlichen Welt. Und mit der diffusen Angst von Menschen, die sich von queeren Errungenschaften angegriffen und unangenehm berührt fühlen: in ihren Werten in Bezug auf Familie, Sexualität und Identität.
Kollektivgedanke in Gefahr
Auch Professor Maren Lorenz sieht den Begriff der Identität im Zentrum der Debatte. Eine moderne Idee, sagt sie. „Die Konzepte mit denen wir heute operieren, sind maximal 20 Jahre alt.“ Vor allem die Vorstellung, dass ein Individuum Rechte gegenüber dem Kollektiv anmelden könne, sei neu.
Der US-amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama kritisierte jüngst in einem Essay im Magazin Foreign Affairs diese Identitätspolitik. Demokratische Gesellschaften würden in Segmente mit immer enger gefassten Identitäten zersplittern. Damit seien die Möglichkeiten gemeinsamer, gesamtgesellschaftlicher Erwägungen und kollektiven Handelns bedroht. Die Bewegungen für Minderheitenrechte, so Fukuyama, würden rechte Meinungen befeuern.
Auch im Diskurs um die verlorenen Zielgruppen der Linken häufen sich Stimmen, die davon ausgehen, dass die klassischen Ideale der Linken, nämlich die Stärkung der sozial Schwachen, zugunsten einer Identitätspolitik für Splittergruppen aufgegeben worden sind. Gemeint sind die individuellen Kämpfe von Schwarzen, queeren Menschen und anderen Minderheiten.
Fukuyama könnte recht haben, wenn er schreibt, dass die Linke wieder vermehrt als Einheit auftreten sollte. Gerade die individuellen Erfahrungen der jeweiligen Minoritäten müssen dabei aber mitgedacht werden. Noch wichtiger ist, dass einmal erkämpfte Rechte für Minderheiten von allen gemeinsam geschützt und bewahrt werden.
Die queere Community in den USA versammelt sich dieser Tage, um für ihre Rechte zu kämpfen. Am Wochenende kamen Demonstrierende im Washington Square Park in New York zusammen, um gegen den neuen Gesetzesvorschlag zu protestieren. Unter dem Hashtag #WeWontBeErased werden auf Twitter transfreundliche Nachrichten gesammelt. „Ich habe News für Donald Trump. Ich existiere“, schrieb die Transperson Jennifer Finney Boylan in einem Meinungsstück der New York Times. Claire Swinford, Aktivistin der Southern Arizona Gender Alliance in Tuscon, hat Angst vor dem möglichen neuen Gesetz. Transpersonen in den USA würden bereits weniger verdienen und eine größere Selbstmordrate aufweisen. „Wenn die Regierung als Geschlecht nur das Geburtsgeschlecht akzeptiert, dann würde ich meine Operationen vielleicht nicht mehr über meine Krankenversicherung abrechnen dürfen. Ich könnte meinen Job verlieren und Probleme mit meinem Pass bekommen“, erklärt sie.
Die Protagonistin in Dalchers dystopischem Roman kann zu Beginn des Buchs schon lange nicht mehr ihrer Arbeit nachgehen. Als sie einen neuen Pass beantragen will, präsentiert die Webseite der Regierung ihr „eine Seite, die ich noch nie zuvor gesehen hatte, mit einem einzeiligen Fragebogen: Ist der Antragsteller männlich oder weiblich?“. Die Protagonistin klickt auf weiblich, bekommt aber natürlich keinen Pass ausgestellt. Überhaupt wird in Vox alles immer schlimmer: Ein neues Serum soll Frauen verstummen lassen.
Erst ganz zum Ende des Buchs deutet sich ein Turn an. Ausgerechnet der phlegmatische Ehemann opfert sich für den Kampf für Gleichberechtigung, ganz ohne selbst betroffen zu sein. Wie das ausgeht, lässt Dalcher aber offen.
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