Der unverstellte Blick

KEINE BALKANISCHE FOLKLORE Wie meine Mutter unversehens zum Parasiten am Volkskörper wurde

Immer, wenn meine Mutter am Ende einer Woche nach Hause kam, rief sie lachend und noch vor jeder Begrüßung "Oh, Freitag!". Mit einer kecken losen Geste warf sie die Alltagstasche auf den Sessel und verschwand in die Küche, um sich den ersten Kaffee in Freiheit aufzubrühen. Ihre Bewegungen verrieten einen mädchenhaften Überschwang. In jedem Schritt verbarg sich ein kleiner Sprung. Bis das letzte der nummerierten Bällchen durch die Röhre in seine Mulde geglitten war, also immerhin bis zum frühen Samstagabend, blieb sie in guter Stimmung, dieser Mischung aus Erleichterung, abgemessener Freude und Erwartung. Zuletzt hat meine Mutter in einem mittelständischen Unternehmen als Metallschleiferin gearbeitet. Die Narben an ihren Armen sind gut verheilt. Nur ein kenntnisreicher Blick sieht das feine Muster auf der Haut, das umherspringende glühende Metallspäne hinterlassen hat. Manchmal hat ein Span die Oberfläche durchdrungen und ist in die darunter liegende Schicht eingezogen. Die Entzündungen waren aber nie so arg, dass ein Arzt hätte aufgesucht werden müssen. Am Sonntag und nach ungezähltem Händeschrubben waren ihre Fingerkuppen vom Schleifrückstand gesäubert. Von ihren Kolleginnen sprach sie manchmal mit heißer Verachtung, dann wieder mit gütiger Nachsicht. Sie waren für sie eine harmonische Gruppe von bösartig Ungebildeten. Vulgär, rassistisch, grob im Fühlen und Denken, ohne jede Bildung des Herzens. Oft sagte sie zu mir "Du kannst Dir nicht vorstellen, wie gemein, wie armselig das alles ist." Nach 15 Jahren Betriebszugehörigkeit und mit 52 Jahren war sie eine der ersten, der gekündigt wurde. An diesem Tag hat sie nicht gewartet bis die Wohnungstür hinter ihr zufiel. Sie hatte schon vor dem Fabriktor angefangen leise, sehr leise zu weinen, weil dramatische Gefühlsausbrüche nicht ihre Art sind. Und zu Hause hat sie ohne Unterlass bis zum späten Abend getrauert, als sei ihr etwas Liebes entrissen worden. Ich glaube, es war ihr größter Trost, dass ihre Kolleginnen zahlreich anriefen und ihre Empörung über die Kündigung ausdrückten. Erst da habe ich begriffen, dass meine Mutter beliebt gewesen ist.

Meine Mutter hasst das Metallfach. Trotzdem war sie, bevor sie Metallschleiferin wurde, auch als Löterin genau und gewissenhaft.

In der harten Zeit, die bei uns in die frühen Siebziger fällt, musste sie Büroräume putzen. Für diese Arbeit hat sie sich geschämt. Ich habe erst als Halbwüchsige davon erfahren und es meinen KlassenkameradInnen zunächst verschwiegen. Später diente mir die Maloche von Vater und Mutter als Ausweis meiner proletarischen Herkunft und Haltung. Nicht gerade eine feiner Zug. Aber ein erstaunlich wirkungsvolles Mittel der Provokation, wenn eines der Kinder ausgerechnet auf ein Elitegymnasium gehen will, und das einzige Arbeiter- und Ausländerkind ist inmitten von - mal mehr mal weniger - großzügigen Ober-und Mittelschichtssprossen.

Meine Mutter liebt das Sekretariatsfach. Auch, weil es in einem Büro sauber und ruhig ist. Die Menschen dort, so glaubt sie, sind freundlich und heiter. Weil sie von schönen Dingen umgeben sind. Weil durch die großen Bürofenster die Sonne scheint. Weil ihre zarten, noch so lange jungen Hände weißes Papier fassen und ihre schlanken Finger auf kleinen Tasten ruhen oder mit elegantem Schwung über die Tastatur tanzen. Es ist ihr schönster Traum, dass ich einmal zur Sekretärin gekürt würde.

In der silbernen Zeit war sie in Hamburg in der Großküche eines Krankenhauses angestellt. Davon spricht sie noch heute gern. Nicht nur, weil sie damals jünger war als ich es heute bin. Und deshalb noch nicht alles entschieden war. Die Arbeit in der Küche eines Krankenhauses machte sie beinahe zu einem Teil des medizinischen Personals. Und nicht viel in der Welt war für sie anbetungswürdiger als ein Arzt oder eine Ärztin. Dass die meisten ihre Bewunderung nicht verdienen, hat sie später erfahren als sie älter und auch einmal krank wurde.

In der goldenen Zeit aber, war meine Mutter Lehrerin für Geschichte und Geographie an einem Gymnasium in Zagreb. Nicht nur ist sie das einzige von fünf Kindern, das eine Schule länger als vier Jahre besucht hat. Sie hat für ihre Ausbildung buchstäblich gehungert. Und das ist keine balkanische Folklore. Der Mangel an Lehrkräften machte es möglich, dass sie auch ohne Staatsexamen unterrichten durfte. Es hieß, dass sie es bald nachholen könne. Zu gegebener Zeit, die dann aber doch nie kam. Statt dessen hat es sie in die Welt verschlagen. In eine andere Welt. In ein deutsches Auffanglager, in ein Ausländerheim. Hier hat sie meinen Vater kennen gelernt. Einen Metaller und fabelhaften Fußballer, der gern geworden wäre, was meine Mutter schon gewesen war. Der jüngere Mann hat ihr gut gefallen. Für so einen verwegenen, charmanten, klugen und hübschen Jungen hatte sie sich aufgespart.

Vor zwei Jahren ist ihr etwas widerfahren, das schon für einen sich im existentiellen Sinne unversehrt fühlenden und sich seiner körperlichen und - sagen wir - seelischen Integrität sicher seienden Menschen, eine ernste Erschütterung gewesen wäre. Für meine Mutter, die erfahrene Fatalistin, war es die folgerichtige Endung ihres Lebens als trauriger Roman, dessen Anfang bereits kaum einen glücklichen Schluss vermuten lässt. Was nicht heißt, dass man nicht auf jeder Seite, die man umschlägt, etwas Gutes, jedenfalls eine Wendung zum Besseren, erhofft.

Für meine Mutter, das sprungbereite, Taschen und Sachen werfende Mädchen, für meine Mutter, die unbeholfen Zärtliche, für meine Mutter, die Studentin mit der Hoffnung auf ein gutes Leben, für meine Mutter, mit den blanken gütigen Augen, für meine Mutter, die auch kokett sein kann, für meine Mutter, die Lehrerin mit dem unbezwingbaren Wunsch, aufzubrechen in ein Abenteuer, für meine Mutter, die geliebte ungeliebte Mutter, für meine Mutter, die sich stets als Fremdling fühlende Frau, für sie war es der unverstellte Blick in den Horror, dass der Andere sich ausdehnen kann in Dir, indem er Dich auszulöschen sucht.

Im Abteil einer gut gefüllten Straßenbahn ist es ihr geschehen, dass ihre bloße Hand einen Anderen zum Ausholen reizte. Ihre Hand, die eine Stange umfasst hielt, um nicht hinzufallen. Mit einem einzigen kraftvollen, präzisen Schlag seines Knüppels hat er meiner Mutter die Hand zertrümmert.

Die Anästhesierung eines starken Schmerzes durch sich selbst, ist ein vielen bekanntes Alltagsparadoxon. Erst, wenn der Schmerz ein klein wenig nachlässt, entfaltet er seine ganze Wirkung. Meine Mutter ist diesen ersten Augenblick und noch ohne einen Blick für ihre Verwundung, ruhig geblieben. Sie hat den Anderen angeblickt und ihn gefragt "Warum?". Er gab eine einfache Antwort, die der Brutalität seiner Handlung in einiges nach steht "Weil ich solche wie Dich gerade leiden kann!" Erst dann habe sie das aus ihrer Hand fließende Blut bemerkt. Das Blut auf ihrer Kleidung und auf dem schwankenden Boden. Der Schmerz sei schlimm gewesen, aber nicht so unauslöschlich brandmarkend wie der Überfall selbst, das mörderische Gaffen, ja, Grinsen der reichlich anwesenden Mitfahrerinnen und die Antwort auf ihre Frage. Wirklich, sie sind noch eine neben dem Anderen ausgestiegen. Sie, weil die Bahn an ihrer Station angekommen war und er, um zu fliehen. Obgleich ihn niemand und nichts verfolgte. Noch als sie so beieinander standen hat sie aus voller Kehle und verzweifelt geschrien und geweint. Auch die Vorstellung dieses schreienden Weinens ist mir schrecklich, weil ich die Mutter als einen wohl traurigen, aber vor allem gefassten, disziplinierten, eher sachlichen und trotz allem auch zur Fröhlichkeit bereiten Menschen kenne. Zugleich habe ich Hochachtung dafür, dass sie sich nicht hat den Mund stopfen lassen. Es ist nicht leicht für eine, die Stimme zu erheben in einem Raum, in dem sie nur Geduldete ist. Und auszuhalten, dass die Duldsamkeit der Befugten von einem Augenblick zum nächsten aufhören kann. Es braucht keinen Grund für das Ende der Geduld, wenn schon die Tatsache Deines Daseins den Grund für die Duldung bildet.

Ich vermute, dass ihre Ansprache an den jungen Mann ihr das Leben gerettet hat. Später erzählte sie, dass er ein zweites Mal ausgeholt und auf ihren Kopf gezielt habe. Ihr Wort hat ihn aufgehalten. Unversehens war aus dem Parasiten am Volkskörper, aus dem Unglück für Deutschland eine Einzelne geworden. Für ihn war es wohl immer noch die Stimme der Fremden, aber immerhin eine Stimme.

Es darf nicht unerwähnt bleiben, dass es zum Ende doch noch eine Frau gab, die den ausgestreckten Arm meiner Mutter ergriff. Sie war im angrenzenden Abteil gewesen und sah meine Mutter auf dem Bahnsteig stehen. Ohne ein Zögern sei sie ihr zu Hilfe gekommen. Sie habe sie getröstet und gehalten, zum Arzt gebracht und zur Polizei begleitet. Danach führte sie meine Mutter den langen langsamen Weg nach Hause. In der Wohnung habe sie bei ihr gesessen bis zur Ankunft meines Vaters. Eine Hausfrau mittleren Alters, mit zwei halbwüchsigen Kindern, die an diesem Tag auf ihr Mittagessen haben vergebens warten müssen. Es gibt diese seltenen Fälle, wo eine von der Not einer anderen weder abgestoßen noch angelockt wird. Wo die eine die andere an die Hand nimmt. Einfach so.

Im Kaufhaus. Sagt die eine Kassiererin zur andern: "Wenn sie wenigstens die Heizung nicht immer so aufdrehen würden." "Hauptsache Arbeit. Heutzutage", antwortet ihre Kollegin. Ihre Stimme ist Vorwurf und für die Leute auf der anderen Seite, die Kundinnen, vernehmlich. Und soll es wohl auch sein. Die andere spannt sich sichtbar und senkt ihren Blick. Was soll sie auch sagen. Allein schon gegen diese kleine Alltagsbeobachtung wirkt die Schmonzette, die derzeit als Werbespot der aufgestandenen Anständigen durch die Kinos flutet, dreist und lächerlich: Eine mit Stars der deutschen Unterhaltungsbranche vollgestellte Straßenbahn. Ein Schwarzer wird von zwei Glatzen angepöbelt. Eine Frau geht dazwischen und wird von den Kurzhaarigen zu Boden geworfen. Nach flüchtigem Zögern ergreifen die Mitfahrenden die Initiative. Sie stehen auf für Menschlichkeit und werfen die Skinheads aus dem fahrenden Zug. Diese finden sich auf allen Vieren vor den Hufen einer Kuh wieder, deren dösigen Blick sie artgerecht beantworten. Was uns wohl sagen soll, dass Skins nur dumme Rindviecher sind und die Artenschranke die Guten von den Bösen trennt. Selten war bürgerliche Noblesse so billig zu haben wie heute.

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