Der Babysitter-Blues

Kinderkriegen Elektronische Säuglingssimulatoren, die auch mal eine Nacht durchschreien, sollen Teenagerschwangerschaften vorbeugen. Eine fragwürdige Form der Geburtenkontrolle?

„Bitte nicht schon wieder.“ Anna Schöpf beugt sich über eine Plastikpuppe. Sie hat sie Ryan genannt. Anna hält den elektronischen Chip an ihrem Handgelenk vor die Brust von Ryan. Es piept, Anwesenheit quittiert. Doch dann legt die Puppe richtig los. Sie nölt mit der hohen Stimme eines Neugeborenen. „Alles, nur nicht dieses Quengeln!“ Die 17-jährige hat Panik in der Stimme. Die ganze Nacht hat die Puppe gequengelt. Kurz vor Mitternacht ging es los. Da hatte Anna eine Stunde geschlafen. Zwei Stunden wollte Ryan herumgetragen werden. Als die Puppe kurz vor drei wieder schrie, war Anna mit den Nerven am Ende. „Ich konnte nicht mehr. Und morgens war ja Berufsschule.“

Ryan ist ein Babysimulator. In seinem Bauch arbeitet ein Computerchip. Er zeichnet genau auf, wie Anna ihn behandelt. Stützt sie seinen Kopf nicht ab, macht er einen Vermerk. Genauso, wenn sie ihn nicht schnell genug wickelt oder füttert. Auf Schütteln oder grobe Berührungen reagiert er besonders empfindlich und notiert: „Genickbruch“. Wieviel Geschrei es gibt, wird vorher programmiert.

Mut zu Kindern ist ein "zartes Pflänzchen"

Erwachsen auf Probe nennt RTL eine Doku-Show, die am 3. Juni das erste Mal ausgestrahlt werden soll. Die Sendung wurde im Vorfeld scharf attackiert, weil Jugendlichen echte Babys für einige Tage zur Pflege überlassen werden. Kritiker befürchten eine Traumatisierung der Kinder. Programmierte Puppen sind RTL aber nicht spektakulär genug. Die Show hat jedoch dasselbe Ziel wie das Simulationsprojekt, an dem Anna Schöpf aus Olpe teilnimmt: Beide sollen Teenager vor frühen Schwangerschaften warnen.

Der Mut zu Kindern sei „ein sehr zartes Pflänzchen“, sagte Familienministerin Ursula von der Leyen kürzlich, als sich herausstellte, dass die Deutschen trotz vier Milliarden Euro Elterngeld wieder weniger Kinder bekommen. Kinderkriegen muss attraktiver werden, folgert die Politik. Das ist Konsens. Allerdings mit Einschränkungen. Einfach so sollen keine Kinder entstehen. Nicht zu früh, sondern zum richtigen Zeitpunkt. Wenn die Ausbildung abgeschlossen ist, man einen Job hat, vielleicht ein Haus bauen kann.

Babysimulatoren werden daher gern und oft eingesetzt. Seit zwei Sozialpädagoginnen aus Delmenhorst erstmals Puppen aus den USA bestellten, sind Pädagogen im ganzen Land begeistert. Mehr als 500 Projekte pro Jahr gibt es: „Elternpraktikum“ nennen sie sich oder „Babybedenkzeit“. Ihre Zielgruppe ist nicht die bürgerliche Mittelschicht, die der CDU-Ministerin zum Kinderkriegen vorschwebt, sondern vor allem Haupt- und Förderschülerinnen.

Kaum Kontakt mit Babys

Diese potenziellen Eltern sollen ihren Kinderwunsch genau überdenken. Weit entfernt von der Realität wünschten sich viele Teenager ein Baby, sagen Uta Schulz-Brunn und Edith Stemmler-Schaich, die die Simulatoren des amerikanischen Anbieters Real-Care vertreiben. Das habe auch damit zu tun, dass viele jungen Leute heute in ihren Familien kaum mehr mit Babys in Kontakt kommen, da die Generationen altersmäßig immer weiter auseinander liegen. Mit dem eigenen Kind halten vielen inzwischen das erste Neugeborene überhaupt im Arm.

Geändert hat sich aber auch die Einstellung zum Elternwerden – vor allem in der Mittelschicht. Mitte 30 wird der Schritt genau geplant. Schwanger werden die meisten Frauen später im Leben als noch ihre Mütter oder gar Großmütter. Umso mehr medizinisches und pädagogisches Wissen wird angehäuft, von Mozart ab dem sechsten Schwangerschaftsmonat bis zum Babysport ist alles durchgeplant. Junge Leute, die ungeplant Eltern werden oder mit ihrem schlechten Hauptschulabschluss nicht das Rüstzeug für den heute erwarteten theoretischen Überbau der Elternschaft mitbringen, werden da zum Problem.

Auch wenn sie in Deutschland eine kleine Minderheit sind. „Es gibt einen gefühlten Anstieg von Teenagerschwangerschaften“, sagt Anke Spies, Erziehungswissenschaftlerin aus Oldenburg. „Er ist aber nicht real.“ Tatsächlich haben gerade mal ein Prozent aller Neugeborenen Mütter unter 18. Und auch bei den Abtreibungen liegen die Teenager weit hinter den Mittzwanzigern. Von Teenieschwangerschaftsraten wie im Mutterland der Babysimulation, den USA, wo von 1.000 Teenagern 55 schwanger werden, ist Deutschland weit entfernt.

Für Anke Spies sind die Baby-Praktika daher mehr als gutgemeinte Aufklärung: „Da ist ein Instrument der Geburtenkontrolle entstanden.“ Die Apparate arbeiteten gezielt mit Überforderung. „Das implizite Ziel ist es, eine in Augen der Gesellschaft zu frühe Schwangerschaft zu verhindern.“ Spies hat Teilnehmerinnen von Simulationen für die erste deutsche Studie befragt. „Nachher war allen klar: Es ist peinlich und schrecklich, wenn einem das zu früh passiert.“

Anna gibt ihrer Puppe die Flasche. Zärtlich streichelt sie die Plastikhand. Die Puppe juchzt, Anna ist erleichtert. Als sie gegen drei Uhr selber weinen musste, hatte Annas Mutter Ryan übernommen. Auch das hat der Simulator dokumentiert. Es wird ein zweites Armband für Babysitter mitgeliefert, damit ermittelt werden kann, wer wie oft Hilfe in Anspruch genommen hat. „Hätte sie ein echtes Baby, würde ich ihr auch helfen“, sagt Annas Mutter. Anna möchte aber noch gar keins. „Das stand für mich schon vorher fest und da bin ich jetzt noch sicherer“, sagt sie. Projektziel erreicht?

„Wir wollen den Mädchen keine Lebensentwürfe aufzwingen“, sagen Iris Klement und Katja Geuecke. Die Sozialpädagoginnen vom Christlichen Jugenddorfwerk (CJD) Olpe bieten seit eineinhalb Jahren Elternpraktika an. Für Haupt- und Förderschüler, die in den Werkstätten des gemeinnützigen Trägers eine Ausbildung machen.

Schwerer Abschied von den automatischen Babys

Eine durchschriene Nacht haben sie programmiert. „Wenn wir das nur erzählen, geht es zum einen Ohr rein und zum andern wieder raus“, sagt Katja Geuecke. Von Kindern abschrecken wollen sie aber nicht. „Es ist nicht grundsätzlich schlecht, jung Eltern zu werden.“ Beim CJD gibt es viele junge Mütter. Manchmal kommen sie zum Projekt dazu und erzählen: Von den schönen und den stressigen Seiten, die für alle Eltern gelten. Iris Klement plant dann Lebensentwürfe mit den Mädchen. Wann kommt das Geldverdienen? Wann geht das Kind in den Kindergarten? „Eine Babysimulation ohne dieses Begleitung wäre reine Abschreckung“, sagt sie.

Die Azubis machen Handyfotos von ihren Simulatoren. Die Puppen sind ausgeschaltet. Neben ihnen liegen ausgedruckt die Ergebnisse. Keine hat ihr Baby vernachlässigt. Eine Teilnehmerin will ihre Puppe nicht mehr abgeben, hat Tränen in den Augen. Sie hat sie zusammen mit ihrem Freund betreut. Am letzten Morgen fragte sie ihn: „Und wenn ich jetzt schwanger wäre?“ Er antwortete: „Super.“ Eine andere hingegen wurden von ihrem Freund nachts rausgeschmissen, weil ihn das Schreien genervt hat. Alle Teilnehmerinnen glauben aber, dass sie es schaffen werden, gute Eltern zu sein. Nur noch nicht jetzt.

Anke Spies kennt andere Schlussrunden. „Den hast du jetzt totgemacht“, sagten Pädagogen zu Mädchen, bei denen die Puppe Genickbruch registriert hatte. Und dass sie jetzt sehen, dass sie ein Baby nicht versorgen können. Den Mädchen würde systematisch Versagen suggeriert, sagt Spies. Eine gefährliche Entwicklung: „Nach so einer Erfahrung werden sie sich eher keine Hilfe suchen, wenn sie schwanger werden und das kann richtig schlecht für das Kind sein.“

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