Es liegt auf der Hand: Wenn die Wirtschaft einmal heruntergefahren ist, wenn es schon diesen Bruch gibt – dann liegt darin auch die Chance, sie anders wieder hochzufahren. Die Debatte darüber, wie dies geschehen soll, ist eröffnet. Im just veröffentlichten globalen Manifest De-growth: Neue Wurzeln für die Wirtschaft fordern mehr als 1000 Wissenschaftlerinnen, Experten, Künstlerinnen und Aktivisten eine radikale Umgestaltung jenseits des Wachstumsparadigmas. In einem offenen Brief in Le Monde plädieren mehr als 200 Prominente und Wissenschaftler, darunter Juliette Binoche, Robert De Niro, Joaquin Phoenix, Penelope Cruz und Madonna, dafür, bitte nicht mehr nach „Normal“ zurückzukehren, sondern stattdessen unsere Konsumgesellschaft und -ökonomie „grundlegend zu verändern“. Eine Studie des Meinungsforschungsinstituts Ipsos zeigt, dass 65 Prozent internationaler Bürgerinnen (57 Prozent der Deutschen) dazu bereit wären, die Konjunkturerholung dem Klimaschutz unterzuordnen. Gesellschaftlich und kulturell ist die Zeit für den nachhaltigen Wirtschaftswandel längst reif. Leider aber hinkt die aktuell etablierte Wirtschaftspolitik diesem Zeitgeist weit hinterher.
So empfiehlt der CDU Wirtschaftsrat eine „zeitliche Streckung der klimapolitischen Zielvorgaben“, um die deutsche Wirtschaft auf Kurs zu bringen. Er ignoriert dabei nicht nur dringendste wissenschaftliche Warnungen, sondern demonstriert auch seine Unfähigkeit darin, wirtschaftliche Zukunft neu zu denken und gestalten. Die Wirtschaftspolitik zielt derzeit vor allem auf eines ab: Vergangenheit wiederherzustellen. Von der brummenden Autoindustrie bis hin zur intensiven Landwirtschaft, alles soll so weitergehen wie vor der Corona-Pandemie. Ansonsten drohe Deutschland die „De-industrialisierung“, so der CDU Wirtschaftsrat. Leider bleibt so auch das Denken der Ratsmitglieder im Zeitalter der Industrialisierung stecken.
Die De-industrialisierung hat in den meisten westlichen Ländern schon in den 1970ern begonnen und wenig mit Corona zu tun. Was uns eigentlich bevorsteht, ist die Aufgabe, unsere Wirtschaft neu zu erfinden und dabei gleichzeitig nachhaltig zu gestalten. Das ist eine Jahrhundertaufgabe. Es geht um nichts weniger als die Emanzipation unserer Wirtschaftsweise von veralteten Theorien, Werten und Gewohnheiten.
Nachhaltiges grünes Wachstum: unwahrscheinlich
Jetzt kommt stets der Hinweis darauf, dass Deutschland in Digitalisierung und grüne Technologie investieren sollte. Das stimmt zwar, ist aber ebenfalls zu kurz gedacht. Ein technologisches Update reicht nicht. Um unsere Wirtschaft den Risiken und Bedürfnissen unserer Zeit anzupassen – und nicht umgekehrt, müssen wissenschaftliche Erkenntnisse den allgemeinen Kurs vorgeben, wie auch bei Corona.
Das gilt insbesondere für den Klimawandel und das Artensterben. In 2019 hat das Europäische Umweltbüro dazu einen wichtigen Bericht veröffentlicht. Dieser prüft Europas Nachhaltigkeitsstrategie, das so genannte „grüne Wachstum“. Grünes Wachstum nimmt an, dass Ökonomien ihr wachsendes Bruttoinlandsprodukt von seinen negativen Umwelteinflüssen entkoppeln können. Technologische Innovation soll das bewerkstelligen: Recycling, Solarenergie, Elektromotoren, CO2 Abscheidung. Allerdings kommt besagter Bericht zu folgender „überwältigend klaren wie auch ernüchternden“ Schlussfolgerung: „Nicht nur gibt es keine empirischen Belege für die Entkopplung des Wirtschaftswachstums von Umweltbelastungen in der Größenordnung, die zum Abwenden eines ökologischen Zusammenbruchs erforderlich wäre, sondern – und das ist vielleicht noch wichtiger – eine solche Entkopplung scheint auch in Zukunft unwahrscheinlich.“
Kurz gesagt, wir befinden uns mit unserer derzeitigen Nachhaltigkeitsstrategie weitestgehend auf dem Holzweg. Um einen bevorstehenden ökologischen Zusammenbruch abzuwenden, müssen wir, daran führt kein Weg vorbei, schnellstmöglich den Kurs wenden und ein ökonomisches Modell entwickeln, das ohne fortlaufendes Wirtschaftswachstum auskommt.
So alt ist der Wachstumsfetisch nicht
Das klingt schwierig, und das ist es auch. Derzeit ist alles – von gängigen Geschäftsmodellen bis zu kollektiven Rentenversicherungen – auf ewiges Wachstum ausgerichtet. Wir sind es gewohnt, Wachstum zu feiern. Um nun nicht schon beim Gedanken an mögliche Schwierigkeiten den Kopf in den Sand zu stecken hilft es, sich zwei Sachverhalte zu vergegenwärtigen:
Erstens ist unsere gesellschaftliche Fokussierung auf Wachstum ein relativ junges Phänomen - ein Nachkriegskonstrukt. Ursprünglich war das Bruttoinlandsprodukt (BIP) dabei nicht als Wohlstandsindikator gedacht, sondern als Buchhaltungsinstrument, das es Nationen ermöglichte, ihre Ökonomien miteinander zu vergleichen. Das wiederum erleichterte die Koordination multilateraler Geldströme sowie auch das Kräftemessen in Zeiten des Kalten Krieges.
Ökonomisch ging es lange Zeit auch ohne Wachstumsfetisch. Die Chancen stehen daher gut, dass wir unser Wohlbefinden auch in Zukunft wachstumsagnostisch konzipieren und verfolgen können. Länder wie Neuseeland, Island und Schottland legen hier vor. Die haben unter der Initiative Wellbeing Economy Governments 2019 beschlossen, Umwelt, Gerechtigkeit und Lebensqualität höher als das BIP zu bewerten.
Denn, zweitens, das BIP sagt nichts über die Qualität oder gerechte Verteilung unserer Wirtschaftsleistung aus. Es registriert nicht, ob unser Wohlstand aus Nahrungsmitteln, Gesundheitswesen und Bildung besteht, oder aus Zigaretten, Autos und Plastik-Kitsch. Es ist ihm gleich, wer wie viel vom kollektiven Wohlstandskuchen abbekommt. Hauptsache, der Kuchen ist groß.
Ebenfalls gleichgültig ist dem BIP, dass die heutige Haupttriebfeder unseres Wohlstandswachstums, die fossile Energie, unsere gemeinsamen Lebensgrundlagen zerstört. Das bedeutet dann auch das Ende jeglicher Wirtschaftsleistung. „Keine Jobs auf einem toten Planeten“ ist ein gängiger Slogan in der Klimabewegung. Das klingt banal. Da Politiker aller Lager aber weiterhin versuchen, die Naturgesetze ihren Wirtschaftszielen zu unterwerfen (vergleiche Michael Jäger im Freitag), scheint ihnen dieser Zusammenhang noch nicht wirklich geläufig.
Schließlich registriert das BIP keinerlei Werte, die wir marktextern schaffen. Wenn ich mein Haus putze, Kinder versorge und uns Essen koche, dann schaffe ich Werte, die sich nicht im BIP wiederspiegeln. Wenn ich stattdessen jedoch Reinigungspersonal und Kinderbetreuung einstelle und uns dann eine Pizza bestelle, dann zählt das sehr wohl als BIP.
Wenn BIP-Wachstum so wenig über unsere tatsächliche Lebensqualität aussagt, warum dann ist Politik dazu bereit, ihm zuliebe Leben und Ökosysteme zu riskieren - etwa durch einen verfrüht beendeten Corona-Lockdown, oder eine Lockerung ohnehin schon zu lasch gesteckter Umweltziele?
Der Papst ist schneller!
Es ist höchste Zeit, dass Industrienationen sich von dieser gefährlichen Logik emanzipieren. Das bedeutet auch den Abschied von veralteten Wirtschaftstheorien, die ihren Ursprung in Zeiten der Frühindustrialisierung – bei Adam Smith und John Stuart Mill – haben. Dabei fällt auf, dass selbst besagte Ökonomen endloses Wachstum nicht für möglich hielten, sondern stattdessen an das zukünftige Erreichen einer stationären Wirtschaft glaubten.
Politökonominnen arbeiten schon lange an alternativen, wachstumsunabhängigen Wirtschaftsmodellen wie zum Beispiel der Donut- oder der Gemeinwohl-Ökonomie. Leider werden diese und andere Vorschläge in der etablierten Politik weiterhin meist als „weltfremd“ und „nicht durchführbar“ abgetan. Spätestens hier stellt sich die Frage, auf welcher Grundlage wir Zukunft eigentlich beurteilen und gestalten wollen.
Wenn wir Modelle der Zukunft mit Parametern der Gegenwart bemessen, dann gelingt uns keine Emanzipation. Hätte die Frauenbewegung ihre Forderungen nach Gleichberechtigung den bürgerlich-moralischen Vorstellungen ihrer Zeit angepasst, dann gäbe es bis heute kein Wahl- oder Erwerbsrecht für Frauen.
Beurteilen wir das Potential einer Zukunftsökonomie anhand heutiger Wirtschaftsstandards, konsumorientiert, wachsend, marktliberal, dann gelingt uns auch keine Wirtschaftswende, sondern wenn überhaupt nur ein Nachfolgemodell. Das aber reicht nicht, um sich anbahnende Umwelt- und Gesundheitskrisen wirksam abzuwenden. Im Gegenteil, es macht uns immer verletzbarer.
Nicht umsonst spricht sich der UN Klimarat IPCC für „raschen, weitreichenden und beispiellosen Wandel in allen Gesellschaftsbereichen“ aus. Nicht umsonst empfiehlt der UN-Biodiversitätsrat IPBES eine „Abkehr vom derzeit begrenzten Paradigma des Wirtschaftswachstums“. In Politik und öffentlicher Debatte kommen diese und andere dringenden Anstöße der Wissenschaft allerdings kaum an. Der Niederländische Premier Mark Rutte zitiert in diesem Zusammenhang gerne Helmut Schmidt: „Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen“. Mit dieser Einstellung aber beraubt sich Politik ihrer eigenen Kernkompetenz:, der Gestaltung gesellschaftlicher Zukunft – und verkommt zum bloßen (Krisen-)Manager.
Mehr wissenschaftliche Einsicht und politische Vorstellungskraft als die meisten Volksvertreter beweist derzeit übrigens der Papst. Der sprach sich in seinem Osterbrief an soziale Bewegungen nicht nur für die Erwägung eines bedingungslosen Grundeinkommens aus, sondern schreibt auch, dass „technokratische Paradigmen (ob staatszentriert oder marktbestimmt) nicht ausreichen, um diese Krise sowie auch alle anderen großen Probleme der Menschheit anzugehen“. Stattdessen müsse unsere Zivilisation „so wettbewerbsorientiert, so individualistisch, mit ihren rasenden Rhythmen von Produktion und Konsum, ihrem extravaganten Luxus, ihren unverhältnismäßigen Gewinnen für nur wenige herunterschalten, Bilanz ziehen, und sich erneuern.“
Wenn selbst der Papst nun um Erneuerung bittet, dann hinkt Politik dem Zeitgeist weit hinterher.
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