Atomproteste Vor dem Kanzleramt halten Atomkraftgegner eine Mahnwache ab, die später zur bunten Demonstration wird – und von der Opposition für den Wahlkampf genutzt wird
Vor dem Berliner Kanzleramt kann man sich nicht recht entscheiden, was das, wozu man sich am Montag um 17 Uhr versammelt hat, denn jetzt eigentlich sein soll. Eine Mahnwache, ein bisschen Wahlkampf oder eine bunte Anti-Atom-Demo? Rund 2500 Menschen zwischen 0 und 99 Jahren sind da offensichtlich geteilter Meinung, obwohl sie eigentlich alle dasselbe wollen: abschalten.
Mahnwache
In sich versunken, sitzt eine alte Frau auf einem kleinen Stück Rasen und betet den Rosenkranz. Ein Stück entfernt, unmittelbar vor dem Zaun, der die Bundeskanzlerin von ihrem Volk abschirmt, flackern rote Grablichter vor weißen Rosen und eine Karte verkündet: "Die Toten mahnen uns – wir vergessen nie."
An etwa 450 Orten in Deutschland haben sich am Montag spontane Mahnwachen organisiert; meh
ahnwachen organisiert; mehr als 110.000 Teilnehmer wollen ihrem Mitgefühl für die Betroffenen in Fernost Ausdruck verleihen.Auch das Gemurmel auf dem Platz vor dem Kanzleramt in Berlin zeugt von dem Entsetzen und der Ratlosigkeit angesichts der japanischen Atomkatastrophe. Plakate fordern "Solidarität mit Japan", und die Mahnwache beginnt in Gedenken an die Opfer mit einer Schweigeminute. Die wird allerdings schon nach wenigen Sekunden für beendet erklärt, andere Anliegen drängen. Denn in diesen Tagen geht es nicht allein darum, in Betroffenheit zu verharren. Vielmehr ruft Hans-Gerd Marian, der Bundesgeschäftsführer der NaturFreunde, dazu auf, die Betroffenheit in Wut, in Aktion und in Politik umzuwandeln, ansonsten drohe das nächste Tschernobyl.WahlkampfIn diesem Moment betreten die führenden Köpfe der Opposition die Bühne. Sigmar Gabriel (SPD), Gesine Lötzsch (Linke) und Claudia Roth (Grüne) – sie wohnen der Veranstaltung vor dem Kanzleramt für eine Stunde bei.Die sieben ältesten Atomkraftwerke müsse man unverzüglich abzuschalten, fordert Gabriel. Alle abschalten, skandiert die Menge. Überhaupt wird Gabriel in seiner Rede von einigen Pfiffen und Buh-Rufen begleitet. Auch Roth sieht sich mit "Heul-doch"-Rufen konfrontiert, als sie appelliert, dass die Menschheit niemals die Atomkraft beherrschen könnten. Einzig Gesine Lötzsch, die das vor wenigen Stunden verabschiedete Moratorium der Kanzlerin als Wahlkampftrick entlarvt, erntet den vollen Applaus.Angela Merkel hatte am Montagmittag verkündet, dass die Laufzeitverlängerung vorübergehend für drei Monate ausgesetzt werde, bis alle Sicherheitsüberprüfungen durchgeführt seien. Oder bis nach der Baden-Württemberg-Wahl, wird unter den Demonstranten vermutet.Doch auch SPDGrüneLinke taktieren. Viele hier teilen die Meinung, die Opposition nutze diese Veranstaltung ebenso zu Wahlkampfzwecken wie Merkel das Moratorium nutze. Sie empören sich über die Auswahl der Redner und deren Versprechungen. "Die Veranstaltung wurde von den Parteien schon sehr als Wahlkampf geführt", meint Chris Lopatta, der eigentlich gekommen ist, um einfach "nur" gegen Atomkraft zu sein. "Na und", meint ein anderer, "ist doch gut, dass die das alles so sagen, können wir sie später darauf festnageln. Lassen wir sie reden."Auch Michael Sommer von DGB ist gekommen. Und er ist wütend. Das bringt so manchen in der Menge zum Schmunzeln, doch seine Rede, in der er den sofortigen und vollständigen Ausstieg fordert, nimmt man ihm ab. Er war schon 1986 bei den Mahnwachen dabei, jetzt sei wieder ein Zeitpunkt gekommen, an dem gehandelt werden müsse.Christiane Böttcher, 52 Jahre alt, kann sich ebenfalls noch gut an die Zeit von Tschernobyl erinnern – seitdem habe sich nichts geändert, findet sie. Es sei ihr deshalb ein großes Bedürfnis gewesen, an diesem Tag hierher zu kommen. "Es gibt immer wieder Zeitfenster, in denen was geändert werden kann. Aber die müssen auch genützt werden." Jetzt sei wieder so ein Zeitfenster, tragisch nur, dass dafür erst eine Katastrophe passieren musste. Mit ihrer Anwesenheit will sie, wie alle Versammelten, ein Zeichen setzen und zeigen, dass ein Ausstieg die einzige Alternative sei.Die Anti-Atom-Bewegung ist groß. "Es waren heute über 110.000 Menschen in ganz Deutschland spontan auf der Straße", verkündet ein junger Mann durchs Megaphon. Viele sind gekommen, viele wollen den Ausstieg, aber viele sind auch resigniert. "Tschernobyl ist auch einfach vorbeigegangen", meint ein älterer Mann. Um viertel vor sechs, erklärt der Veranstalter, Naturfreunde e.V., die Mahnwache für beendet. Über die Hälfte der Teilnehmer zieht von dannen. Der Rest steht in kleinen Grüppchen auf dem Platz und wundert sich, warum denn jetzt schon tote Hose sei.Anti-Atom-DemoUnd dann wandelt sich die Betroffenheit in Wut, in Aktion, in Politik. Spontan bildet sich eine Menschenkette, die das Kanzleramt einmal komplett umzingelt. "Abschalten, abschalten", wird gerufen, "Abschalten, abschalten", hallt das Echo von den Kanzleramtswänden zurück. Je später die Stunde, desto kreativer werden auch die Demosprüche. Am beliebtesten, weil so passend: "Merkel hat nicht Angst vor Strahlen, Merkel hat nur Angst vor Wahlen." Und angesichts des inzwischen hell erleuchteten Kanzleramts: "Licht aus, Merkel raus." Eine Samba-Band spielt, es gibt Feuerwerk, immer wieder schwillt die Lautstärke der Rufe an, besonders als zahlreiche Abgeordnete in das Kanzleramt strömen und die Demonstranten aus dem Fenster und vom Balkon aus begutachten. Schon spannend, was das Volk da für ein Theater aufführt.Irgendwann trifft auch ein kleiner Demonstrationszug ein, der vom Alexanderplatz über die Straße "Unter den Linden" bis zum Kanzleramt zog, und vom Berliner Bündnis Montagsdemo und der MLPD organisiert wurde. Es sind vielleicht noch 200 Leute vor dem Kanzleramt, die umgedichtete Volkslieder singen und dazu tanzen. Es wirkt, als seien das die eingeschworenen Anti-Atom-Gegner: überparteilich, radikal und mit einer Vision, die den Abgeordneten in ihrer Stärke gefehlt hat: Abschalten. In Deutschland, in Europa und der ganzen Welt. Und zwar sofort.Dazu, vereinbart man, wolle man sich auch am nächsten Tag treffen. Selbe Zeit, selber Ort. Um dann vielleicht auch über Nacht zu bleiben.
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.